Schulkommissionssitzungen sind nicht gerade der Thriller, das ist auch in Loudoun County, Virginia, so. Das neunköpfige «School Board» beaufsichtigt die 94 öffentlichen Schulen im bevölkerungsreichen Bezirk westlich von Washington, mit über 80'000 Schülerinnen und Schülern.
Seit letztem Sommer ist an den öffentlichen Kommissionssitzungen die Ruhe gestört. Zu jeder öffentlichen Sitzung strömen Dutzende von Eltern herbei und protestieren – gegen die Covid-Massnahmen, gegen die links-liberalen Kommissionsmitglieder und gegen die «Critical Race Theory».
Der Ton ist schrill
An der Januarsitzung ergreifen 45 empörte Elternteile das Mikrofon. «Begriffe wie tödliche Polizeigewalt, unbewusster Rassismus, Mikro-Aggressionen, weisses Privileg werden im Unterricht gebraucht, und das ist inakzeptabel», zählt eine schmale Frau im Stakkato auf. Applaus.
Ihr Name ist Tiffany Polifko. Zwar werde die «Critical Race Theory» nicht als Lehrfach unterrichtet, erklärt sie nach ihrem Auftritt. Aber deren Ideologie habe das Schulsystem unterwandert, in Form von offiziellen Gleichstellungsprogrammen des Erziehungsdepartements von Virginia.
Was hat sie gegen die Gleichstellung, gegen «Equity», wie es hier heisst? «Jemand muss immer schlechter abschneiden. Gleichstellung bedeutet eine Entwertung des Leistungsprinzips. Und das ist schlecht für Amerika», sagt sie mit ihrem neunjährigen Sohn im Schlepptau.
Und Cheryl Onderchain von der führenden Eltern-Gruppe «Fight for Schools» sagt: «Die Pandemie hat uns die Augen geöffnet, wie korrumpiert unsere Schulen sind. Zuerst kämpften wir gegen die Covid-Massnahmen, dann gegen die ‹Critical Race Theory›.»
«Critical Race Theory»: Was ist das?
Manche reiben sich die Augen, dass die «Critical Race Theory», kurz CRT, die Gemüter dermassen erhitzt. Es handelt sich dabei um einen rechtswissenschaftlichen Ansatz, der in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde. Kimberlé Crenshaw, Rechtsprofessorin an der Columbia Universität, entwickelte ihn mit.
«Es ist nicht eine Theorie, sondern eher eine Fragestellung, um herauszufinden, weshalb die Diskriminierung von ethnischen Minderheiten die Jahrhunderte überdauert», erklärte Crenshaw in einem Interview mit dem US-Fernsehsender MSNBC. Bei der aktuellen CRT-Debatte gehe es ihrer Ansicht nach auch gar nicht um CRT.
Es sei ganz einfach ein Backlash gegen die «Black Lives Matter»-Bewegung, sagt die afroamerikanische Akademikerin. Der Vorwurf des umgekehrten Rassismus gegen Weisse habe in der US-Geschichte schon ein paarmal zur erneuten Diskriminierung von Afroamerikanerinnen und -amerikanern geführt, unter anderem zur Segregation an den Schulen.
Der rechts-konservative Anpfiff
Die CRT-Debatte wurde während des ersten Pandemie-Sommers geboren. Während den «Black-Lives-Matter»-Protesten wurde der rechts-konservative Journalist Christopher Rufo in Seattle auf anti-rassistische Diversity-Seminare aufmerksam, die in Unternehmen und Behörden der USA gang und gäbe sind. Unter anderem werden Weisse aufgefordert, über Schuldgefühle nachzudenken, die aus ihrer gesellschaftlich-privilegierten Lage entstünden.
Rufo roch Skandalpotential und begann ähnliche Initiativen in den ganzen USA zu dokumentieren. Er machte dabei einen gemeinsamen Nenner aus: die «Critical Race Theory». Präsident Donald Trump hörte von den Ermittlungen und lud Rufo ins Weisse Haus ein. Im November 2020 wurde er als Stargast zur national-konservativen Konferenz in Orlando eingeladen.
Das Ziel von CRT sei die Speerspitze einer kulturellen Revolution, deren Ziel es sei, den Boden für eine sozialistische Revolution vorzubereiten, meinte Rufo. Die anwesende politische Prominenz nahm seinen Schlachtruf begeistert auf. 14 Bundesstaaten haben seither Gesetze gegen CRT erlassen.
Eltern werden mobilisiert
Wohlgemerkt: Zu diesem Zeitpunkt gab es die Elternorganisationen, die nun die Schulkommissionssitzungen stürmen, noch nicht. Sie entstanden Monate später, zum Beispiel in Virginia, wo Ian Prior, ein bekannter republikanische Parteistratege, die Elterngruppe «Fight for Schools» gründete. Zum konservativen Sender Fox News sagte er: «Virginia ist die Wiege des Kampfs gegen die CRT. Es ist ein Funke eines Brands, der das ganze Land erfassen wird.»
Der Kampfbegriff CRT zündete bei den Eltern in der Agglomeration so sehr, dass er zum Hauptthema im Wahlkampf ums Gouverneursamt wurde und dem Republikaner Glenn Youngkin zum Sieg verhalf. Dieser hat am ersten Amtstag «entzweiende Konzepte, wie CRT» aus dem Unterricht an öffentlichen Schulen verbannt und eine Hotline für Eltern eingerichtet, um CRT-Vorfälle zu melden.
Der Kulturkampf an den Schulen hat erst begonnen. Man darf erwarten, dass CRT zum grossen Wahlkampfthema bei den kommenden Zwischenwahlen in den USA werden wird.