Die jüngste Entwicklung: Die iranischen Sicherheitskräfte griffen in der Nacht erneut kurdische Oppositionsgruppen mit Drohnen an. Zwei Tage zuvor fuhren Panzer in der kurdisch geprägten Stadt Mahabad im Nordwesten ein. Türkische Bomben fielen auch wieder auf Stellungen der PKK und der Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien und im Nordirak. Einschätzungen aus der SRF-Auslandredaktion von Philipp Scholkmann und Susanne Brunner.
Allgemeine Lage: Türkische Angriffe in Nordsyrien und in Nordirak sind regelmässig, was aus der jetzigen Welle wird, hängt vom Kalkül von Präsident Erdogan ab. Im Iran sind die Kurdengebiete ein Zentrum der seit zwei Monaten laufenden Protestbewegung. Insofern sind Kurdinnen und Kurden gerade an mehreren Fronten unter Druck. Das sind sie aber grundsätzlich, sobald sie Selbstbestimmung oder auch nur ein Ende der Diskriminierung fordern. Gelungen ist ihnen das bisher nur im Nordirak mit einer garantierten kurdischen Autonomiezone.
Lage in Nordirak: Neue Unabhängigkeitsbestrebungen gibt es im Nordirak derzeit nicht. Mit der umstrittenen Abstimmung über die Unabhängigkeit 2017 machten sich die Kurden auch Feinde. Denn dort liegt auch ein Rückzugsgebiet der PKK, welche von dort aus über die Grenze angreift. Wenn die Türkei und Iran Angriffe auf die PKK fliegen, ist auch die unbeteiligte Lokalbevölkerung betroffen. Nicht wenige im Nordirak wünschten sich die PKK sehnlichst weg, so Brunner.
Lage in Syrien: Die kurdische Uneinigkeit oder Vielstimmigkeit zeigt sich auch in Nordsyrien, wo die Kurden im Chaos des Syrienkriegs eine Art Autonomie aufzubauen versuchten. Getrieben wird diese von der PKK, ähnlich den Bestrebungen auf der anderen Seit der Grenze in der Türkei. Neben Präsident Erdogan wollen auch andere türkische Parteien das kurdische Projekt in Nordsyrien nicht zulassen. Erdogan schickte bereits mehrmals Truppen nach Syrien, richtete mit Panzergewalt Pufferzonen ein und zog arabische Verbündete auf seine Seite, um die kurdische Zone zurückzubinden. Mit den jüngsten Angriffen übers Wochenende hat Erdogan dieses Vorgehen wieder intensiviert.
Lage in Iran: Die Kurdengebiete stehen im Zentrum der Protestwelle gegen das Regime und die Repression ist besonders blutig. Zur liberalen Forderung nach einem Ende des Kopftuchzwangs und der Bevormundung kommt, wie in andern Minderheitsgebieten, der Kampf für ein Ende der ethnischen Diskriminierung.
Lage in der Türkei: Laut türkischer Regierung sind die jüngsten Bombardierungen die Antwort auf den Anschlag von Istanbul. YPG wie auch PKK bestreiten eine Beteiligung. Die wichtigste politische Partei für kurdische Interessen ist die HDP, auch sie ist unter Druck, aber noch nicht verboten. Die Kurdenpolitik Erdogans verändert sich nach innenpolitischem Kalkül. Er geht mit Armee und Justiz gegen kurdisches Autonomiestreben vor – wenn er aber auf kurdische Stimmen angewiesen ist, lässt der Druck nach. Interessant deshalb, wie sich die Lage im Hinblick auf die Wahlen im Juni 2023 entwickeln wird.
Solange die Kurden unter sich derart zerstritten sind, werden sie gar nicht versuchen, einen gemeinsamen Staat zu errichten, wie Brunner sagt: Sie wollen nicht unterdrückt werden, ihre Sprache sprechen und eine gewisse Autonomie. Mehr ist auf absehbare Zeit nicht realistisch.