Hätte man Samuel Issacharoff nach einem Beispiel für eine europäische Erfolgsstory gefragt – noch vor wenigen Jahren wäre die Antwort klar gewesen: Polen und sein Weg von der kommunistischen Diktatur zu einem demokratischen Rechtsstaat.
Dem Land sei es nach der Wende von 1989 am besten gelungen, nicht nur demokratische Institutionen und unabhängige Gerichte aufzubauen, sondern auch Parteien, Nichtregierungsorganisationen und eine vielfältige Medienlandschaft.
In dieser Erfolgsgeschichte habe das Verfassungsgericht eine entscheidende Rolle gespielt, sagt der frühere Berater von US-Präsident Obama. Die Krux dabei: «Werden Parteien und NGOs systematisch geschwächt und Medien geknebelt, ist es bald vorbei mit der Unabhängigkeit der Gerichte.»
Ein Punkt, an dem gerade mehrere osteuropäische Länder angekommen sind. In Polen, Ungarn und Rumänien haben die Regierungen Justizreformen auf den Weg gebracht. Diese Gesetzespakete führen alle dazu, dass die Gewaltenteilung geschwächt wird und die Regierung viel Kontrolle über die Justiz gewinnt.
Parallel dazu versuchen die Regierungen in Budapest, Bukarest und Warschau oppositionellen Parteien, kritischen NGOs und unabhängigen Medien Steine in den Weg zu legen: «Nach dem Ende der Sowjetherrschaft fehlten in den meisten osteuropäischen Ländern Organisationen mit tiefen Wurzeln in der Gesellschaft. Und so wurde die Politik vielerorts zu einer Politik des starken Mannes», so Issacharoff.
Die Wachsamkeit war weg
In Ungarn ist dieser starke Mann Ministerpräsident Viktor Orban, in Polen und Rumänien ziehen die Regierungsparteichefs Jaroslaw Kaczynski und Liviu Dragnea die Fäden.
Dass diese Figuren gerade jetzt so stark geworden sind, überrascht Issacharoff gar nicht: «So lange die europäische Gemeinschaft wachsam war und diese Länder ein Interesse hatten, den Rechtsstaat zu respektieren, weil das eine Voraussetzung war für einen EU- oder einen Nato-Beitritt, so lange dämmte das diese autokratischen Strömungen ein.» Doch nach dem EU-Beitritt habe die Union zu wenig aufgepasst, den Angriffen auf den Rechtsstaat nichts entgegengesetzt, sagt der Verfassungsrechtler.
Es ist bemerkenswert, dass etwa in Polen Zehntausende auf die Strasse gehen, um sehr abstrakte Grundsätze zu verteidigen.
Issacharoff verspricht sich wenig von den EU-Institutionen, aber einiges von den Bürgern, die sich in den einzelnen Ländern für den Rechtsstaat wehren: «Es ist bemerkenswert, dass etwa in Polen Zehntausende auf die Strasse gehen, um sehr abstrakte Grundsätze zu verteidigen. Zum Beispiel, dass das Verfassungsgericht seine Urteile veröffentlichen darf. Das ist ein Zeichen für eine lebendige Zivilgesellschaft.»
Eine Frage, die in Polen intensiv und sehr kontrovers diskutiert wird, ist, wie man die Justiz im Falle eines Machtwechsels neu ordnen soll. Müssen alle Richterinnen und Richter, die nach diesen Justizreformen neu eingesetzt wurden, wieder gehen?
«Man kann diese Institutionen nicht jedes Mal umkrempeln, wenn eine neue Regierung an die Macht kommt. Ich bin ursprünglich aus Argentinien. Dort war es jahrzehntelang üblich, dass jede neue Regierung das oberste Gericht säuberte und die eigenen Leute einsetzte – mit verheerenden Folgen für den Rechtsstaat», so Issacharoff.
Er hofft darauf, dass Richter – auch wenn sie unter dubiosen Umständen zu ihren Roben gekommen sein mögen, in diese hineinwachsen und sich trotz allem die richterliche Unabhängigkeit aneignen.