Am dreizehnten Tag der Massenproteste in seinem Land hat der libanesische Premierminister Saad Hariri gestern den Rücktritt seiner Regierung eingereicht. Er hat damit eine wichtige Forderung der Demonstrierenden erfüllt. Staatspräsident Michel Aoun hat sich noch nicht zum Rücktrittsgesuch geäussert. Das Land hält den Atem an. Doch es wird – vorläufig – weiter protestiert.
Für Aufsehen in ganz Libanon haben in den letzten zwei Wochen vor allem die Proteste in der nordlibanesischen Hafenstadt Tripoli gesorgt. Diese gerät immer wieder wegen religiösen Extremisten und Gewalt in die Schlagzeilen. Ausgerechnet hier sind die Proteste zu einem Volksfest geworden, das die Menschen hier wohl nicht so schnell vergessen werden - was auch immer passieren mag.
Eine Bauruine dient als Bühne
Am Al-Nour Platz in Tripoli steht ein Hochhaus, das nie fertig gebaut wurde. In dieser Bauruine treten Musikerinnen, Rapper und DJs seit Tagen auf. An diesem Abend regnet es. Trotzdem sind Tausende auf den Platz geströmt und schauen erwartungsvoll zum Stockwerk hoch, das als Bühne dient.
Ein DJ spielt einen libanesischen Hit, das Publikum beginnt zu tanzen. Auf dem Beton-Vorsprung im ersten Stockwerk der Bauruine steht der 21-jährige Abed in einem gelben Regenmantel. Er ist von Gefühlen überwältigt.
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Bild 1 von 5. Ein baufälliges Gebäude im Stadtzentrum von Tripoli dient den vielen Musikern, DJs und Künstlerinnen als Bühne – sie versuchen auch das Innere des Gebäudes zu verschönern. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 5. Die libanesische Armee sorgt für die Sicherheit der Demonstrierenden, auch in Tripoli und lässt sie – vorläufig – gewähren. Am Boden ein Plakat, auf dem angeblich korrupte Politiker von den Demonstrierenden zur Fahndung ausgeschrieben sind. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 5. Zwei Aktivisten werfen der demonstrierenden Bevölkerung Regenschirme zu. Auch bei Regen strömen Zehntausende abends ins Stadtzentrum, um gegen die Regierung zu protestieren. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 5. Proteste werden in Tripoli zum Volksfest: Zehntausende versammeln sich vor allem abends, um Musik zu hören, zu demonstrieren, und die Gesellschaft zu geniessen. Bildquelle: SRF.
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Bild 5 von 5. Was abends auf dem Al-Nour Platz passiert, begeistert das ganze Land: Die Auftritte und die begeisterte Menge verändern das islamistische Image, das die Stadt sonst hat. Bildquelle: SRF.
«Schau, sie tanzen, küssen sich sogar!»
«Schau, das sind die armen Leute», sagt er. «Die Regierung hat sie bestohlen und ihnen Gewalt und Terrorismus gebracht. Und jetzt tanzen sie!»
Schau was in Syrien, Irak und Libyen passiert ist, und jetzt sieh dir diese Revolution an! Sie trinken, tanzen, spielen, ja küssen sich sogar!
Die fast naiv anmutende Freude Abeds zeigt, wie aussergewöhnlich die Ereignisse in der nordlibanesischen Hafenstadt Tripoli sind. Die Stadt hat einen schlechten Ruf: Sie sei eine Extremisten-Hochburg, in der es immer wieder zu Anschlägen und zu Gewalt zwischen der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit und den religiösen Minderheiten der Christen und Alawiten komme. Und rund zwei Drittel der Bevölkerung ist sehr arm.
Wo Wut und Armut aufeinandertreffen
«Viele hier haben nicht einmal genug Geld fürs Essen», sagt Hussein, der unter anderem mithilft, Geld für die Konzerte in Tripoli zu sammeln. Als die libanesische Regierung neue Steuern einführen wollte, unter anderem eine Steuer auf WhatsApp-Sprachanrufe, hätte das 6 Dollar pro Monat ausgemacht. In Tripoli verdienen viele nicht einmal 2 Dollar pro Tag. Aber die Wut über die WhatsApp-Steuer sei hier nur die Spitze des Eisbergs, sagt Linda Bourghol, die die Proteste in Tripoli mitorganisiert.
Die Leute in Tripoli haben schlicht genug von den miesen Spielchen der Politiker.
«Die Leute in Tripoli haben schlicht genug von den miesen Spielchen der Politiker», sagt sie. Zu diesen Spielchen gehöre, dass die Politiker die Gesellschaft für ihre Zwecke zu spalten versuchten, erklärt der muslimische Geistliche, Scheich Bilal, der in der Bauruine auf seinen Auftritt wartet
«Jetzt sind die Leute endlich aufgewacht: Muslime, Christen, Alawiten und Drusen lassen sich nicht mehr für politische Zwecke spalten,» sagt der Geistliche. «Alle demonstrieren gemeinsam für ihre Rechte als libanesische Staatsbürger,» sagt er und tritt vor die Masse.
«Tripoli hat Revolution am nötigsten»
Scheich Bilal stimmt ein Gebet an, in das er dann den Ruf «Thaura» einbaut - arabisch für Revolution. Nach ihm tritt ein christlicher Geistlicher auf, sie geben sich die Hand, die Menschen applaudieren, und danach wechseln sich DJs, Rednerinnen und Künstler ab mit Auftritten, wie sie hier in dieser verarmten Stadt viele noch gar nie erlebt haben.
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Bild 1 von 3. «Tripoli hat diese Revolution am meisten nötig.» Aya (links) und Hiba (Mitte) freuen sich darüber, wie die friedlichen Proteste ihre Stadt Tripoli verändert haben. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 3. Die beiden jungen Männer verdienen dank dem Flaggenverkauf mehr als sonst: Die libanesische Flagge gilt als Symbol des Protests gegen Politiker, die die Bevölkerung nach Religion und politischer Zugehörigkeit spalten. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 3. Frauen-Power bei den Protesten in Libanon: Linda Bourghol (Mitte) ist eine der Organisatorinnen der abendlichen Protest-Parties. Bildquelle: SRF.
«Dank dieser Revolution haben wir ein Nachtleben in Tripoli!», schwärmt ein junger, dünner Fahnenverkäufer, der im Moment mehr Geld verdient als je zuvor in seinem Leben. Aya und Hiba, zwei muslimische Frauen, tanzen zur Musik und halten ihre Handys in die Luft. «Tripoli hat diese Revolution am nötigsten», sagt Hiba. Die Politiker machen uns immer schlecht und stehlen unser Geld. Aber jetzt sind wir glücklich!»
Angst haben sie nicht, dass die Proteste in Gewalt enden. «Wir machen diese Revolution ja nicht, um uns gegenseitig umzubringen, sondern, weil wir unsere Rechte einfordern», sagt Aya.
«Die Armee ist auf unserer Seite»
In der Bauruine legt Abed einen Arm auf die Schulter eines Soldaten der libanesischen Armee, der dort Wache steht. «Die libanesische Armee ist auf unserer Seite», sagt er. Einen Tag später – am Freitag, 25. Oktober - kommt es zu Zusammenstössen mit Demonstranten und der Armee. Es gibt Verletzte. Die Menschen in Tripoli lassen sich nicht beirren. Das neue Lebensgefühl in ihrer Stadt wollen sie so schnell nicht loslassen.
Nach der Rücktrittsankündigung Saad Hariris am Montagabend, zeigten Fernsehstationen Bilder von vorsichtig jubelnden Menschen in Tripoli. Sie wollen – vorläufig – weiter demonstrieren.