Es ist, als gäbe es Deutschland zweimal. Da sind auf der einen Seite hunderttausende Menschen, welche gegen die AfD, gegen Rechtsextreme auf die Strasse gehen. Die sich um die Demokratie fürchten, um die Freiheit, um die Rechte von Ausländerinnen und Ausländern. Die erschüttert sind von den Plänen, welche ein rechtsextremer Österreicher AfD-Mitgliedern und zwei Frauen aus der CDU vorgestellt hat. «Remigration» heisst der Kampfbegriff. «Deutschland den Deutschen, Ausländer raus», wie es AfD-Leute aus Bayern nachts in einer Disco gesungen haben sollen. Die Polizei ermittelt.
Und da ist auf der anderen Seite eine Gruppe von Menschen, die man am einfachsten bei Telegram findet. Dort steht bei den «Freien Sachsen»: «Die Herrschenden haben ihr Fussvolk aktuell aufgefordert, Pro-Regierungsdemonstrationen zu organisieren. Vor allem in Westdeutschland gehen zehntausende Extremisten gegen Freiheit, Meinungsvielfalt und Mitbestimmung auf die Strasse.»
«Aufstand der Anständigen»
Man bezeichnet sich gegenseitig als «Extremisten». Bezichtigt sich gegenseitig, gegen die Freiheit zu sein, gegen die Demokratie. Doch gibt es zwischen den beiden Polen noch Schnittmengen? Spricht man miteinander? Einen interessanten Einblick in die AfD liefert Franziska Schreiber. Die Frau aus Dresden war lange in der AfD, 2017 trat sie aus. In einem Film der ARD berichtet sie von der «Bubble» AfD. Davon, dass sich viele Mitglieder abschotten, in einer anderen Welt leben, in der AfD-Welt. Und sonst nichts mehr mitkriegen.
Gleichzeitig ruft die SPD von Kanzler Scholz zu einem «Aufstand der Anständigen» auf. Heisst im Umkehrschluss: Wer nicht mitmacht, ist unanständig. Eine Brücke zu Menschen, die zwar Sympathien haben für die AfD, aber die Ohren noch offen für Stimmen aus der Mitte der Gesellschaft, ist das nicht.
Zwei Deutschlands, zwei Blicke auf ein Land. Wie sehen Forschende die Kraft der Demonstrationen dieses Wochenendes? Es sei nicht so, dass «die Guten» allen anderen zeigen könnten, dass sie auf dem falschen Weg seien, sagt Wolfgang Schröder, Politologe der Universität Kassel in der ARD. Es mache zwar Hoffnung, sagt Schröder, dass sich die Zivilgesellschaft jetzt zu Wort melde. «Aber damit wiederum die Hoffnung zu verbinden, dass die AfD jetzt schwächer wird, das ist zumindest kein Automatismus».
Für Scholz könnte es eng werden
Es braucht also mehr als Demonstrationen, damit sich die zwei Deutschlands wieder zuhören. Und da ist auch Kanzler Scholz gefragt. Migration, Ukraine-Krieg, Corona, Inflation, all das verunsichert die Menschen, treibt viele zur AfD. Laut einer Insa-Umfrage für die «Welt» haben 64 Prozent der Menschen das Gefühl, die Regierung Scholz vergrössere die gesellschaftliche Spaltung.
Und der Kanzler ist auch nicht einer, der es gerne und überzeugend immer wieder erklärt. Scholz fällt es schwer, Deutschland zusammenzuhalten. Und die vielen Streitereien in seiner Ampel-Regierung machen das auch nicht einfacher.
Darum könnte es auch für Scholz eng werden. Im September wird in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt. Wenn die AfD dort triumphiert, wenn da plötzlich ein AfD-Ministerpräsident gewählt wird, nimmt der Druck auf Scholz gewaltig zu.
Die Gerüchteküche in Berlin brodelt schon lange, dass es einen Wechsel im Kanzleramt geben könnte. Die Nummer eins in der Polit-Beliebtheitsskala könnte übernehmen: Boris Pistorius, der Verteidigungsminister. Um das, was gerade wegrutscht, wieder zusammenzubringen. Aus den zwei Deutschlands wieder eines zu machen.