Deutschland ist das wirtschaftlich stärkste Land der EU – mit tiefer Arbeitslosigkeit und starkem Export gilt es als Musterschüler. Doch selbst die starke Bundesrepublik hat eines nicht geschafft: die Armut zu verringern.
Jedes dritte Kind braucht Hartz IV
Seit Jahren ist jeder Zehnte auf Sozialleistungen angewiesen. Dazu kommen all jene – Alte, Alleinerziehende und Zugewanderte – die von Armut bedroht sind. Das gilt für reiche Städte genauso wie für kleine Gemeinden. Ganz besonders stark betroffen ist die Stadt Pirmasens im Westen der Pfalz. Sie ist eine der ärmsten Kommunen Deutschlands – jedes dritte Kind ist auf das Arbietslosengeld Hartz IV angewiesen.
Strahlende Kindergesichter wohin man schaut: Im interaktiven Museum Dynamikum – dem grossen Leuchtturmprojekt der Stadt – experimentieren die Kleinen spielerisch mit der Physik. Doch es sind nicht diese Kinder, die für Schlagzeilen sorgen. Es sind all jene, die sich die acht Euro Eintritt hier niemals leisten könnten.
Kein Geld und schlechtes Image
«Es darf nicht sein, dass die Armut nur mit ihren hässlichen Seiten gezeigt wird», ärgert sich Brigitte Freihold, Stadtparlamentarierin der Linken, über einen Fernsehbericht. Denn die Stadt, die einst ein florierendes Zentrum der weltweiten Schuhproduktion war, leidet unter einem schlechten Image.
«Es gibt hier tatsächlich viele Arme, psychisch krank und süchtig, die sich nicht um ihre Kinder kümmern können. Diese Kleinen schleppen schon in jungen Jahren eine schwere Bürde mit sich herum», bestätigt die Grundschullehrerin. Erschreckend sei zudem, wie wenig die Menschen über Armut wüssten: «Die sehen ein armes Kind in der Stadt mit einem Eis und das wird dem Kind nicht gegönnt: Dann heisst es, guck, es isst ein Eis, und eigentlich haben sie nicht genug zu essen» – völlig unverständlich für die Politikerin.
Wegzug der Schuhindustrie – Alte und Arme bleiben
Als die Schuhindustrie Mitte der 1970er Jahre nach Asien verlegt wurde und auch noch das US-Militär abzog, verliessen auch viele gutausgebildete Junge die Stadt. Diese schrumpfte von 60'000 auf 40'000 Einwohner. Zurück blieben Alte und Arme. Zum Beispiel jene, die sich jede Woche in der Tafel von Pirmasens abgelaufene Lebensmittel gratis holen.
Die 59-jährige Anita, übergewichtig, mit künstlichen Hüft- und Kniegelenken, peppt so ihre Rente von 660 Euro auf. Die Tafel sammelt auch Geld für Kinder, die keine Möglichkeit haben, sich für einen Euro in der Kita mit einer warmen Mahlzeit zu verpflegen. «Das Geld wäre schon da, aber es gibt Menschen, die brauchen es dann für anderes», sagt Leiter Erwin Hess und zieht an einer virtuellen Zigarette.
Das Problem sei nicht das fehlende Geld, ist Oberbürgermeister Bernhard Matheis überzeugt. «Die Armut dieser Kinder, die sich festmacht an Bildungsarmut, an gesellschaftlicher Teilhabe, die hat etwas damit zu tun, dass sie arm sind an Zuwendung, arm an familiärer Unterstützung. Das ist das eigentliche Problem.»
«Pakt für Pirmasens»
Der Oberbürgermeister hat deshalb den inzwischen mehrfach ausgezeichneten «Pakt für Pirmasens» ins Leben gerufen. Ziel des Netzwerkes ist es, Kinder aus schwierigen Verhältnissen schon früh zu begleiten und zu unterstützen. So kann sich auch Nicole dort Hilfe für ihre drei Kinder holen. Damit Joshua, Samira und Maya auch einmal auf einen Schulausflug mitkönnen. Trotz des Vollzeitjobs ihres Mannes und ihrer eigenen Halbtagesstelle liegen die Einkünfte der Familie nur einige Euro über der Sozialhilfe.
Ehrenamtliche des Paktes besuchen im Winter Pausenplätze und suchen nach Kindern in Sandalen oder solchen ohne Jacke. Das gebe es erschreckend oft in dieser Stadt. Sie zeigen den Kindern, dass die Milch von der Kuh kommt und dass Hartz IV kein Berufswunsch sein darf. Alles Dinge, die nicht selbstverständlich sind in Familien mit depressiven Langzeitarbeitslosen. Zu oft wird dort Armut einfach vererbt. Es ist zwar ein langer Weg, wenigstens einige dieser armen Kinder in eine Ausbildung zu bringen – Pirmasens aber arbeitet hart daran.