Der Besuch von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu in Berlin wurde mit Spannung erwartet. Die Stimmung in Israel ist aufgrund der geplanten Justizreform sehr aufgeladen. So sehr, dass sie sogar nach Deutschland rüberschwappte. Gespannt wurde demnach auch die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz erwartet. Die Einschätzungen unserer Korrespondentinnen.
SRF News: Gleich die Frage nach Deutschland: Was hat der Kanzler denn nun gesagt heute Nachmittag?
Simone Fatzer: Olaf Scholz hat von grosser Sorge gesprochen. Wörtlich sagte er: «Als demokratische Wertepartner und enge Freunde Israels verfolgen wir diese Debatte sehr aufmerksam, und – das will ich nicht verhehlen – mit grosser Sorge.» Israel solle eine liberale Demokratie bleiben. Das äusserte Scholz als Wunsch.
Dann lobte er den Staatspräsidenten Isaac Herzog für seinen breiten Diskurs in der Gesellschaft und sagte, man wünsche sich, dass über den Vorschlag von Herzog bezüglich der Entmachtung der Richter noch nicht das letzte Wort gesprochen sei. Die deutsche Haltung ist unmissverständlich, aber in Worte gepackt, die nicht brüskieren. Gleichzeitig hat Scholz die gegenseitige Freundschaft betont und die immerwährende Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels.
Wie lässt sich das einordnen in das deutsch-israelische Verhältnis?
Es war nicht zu erwarten, dass Kanzler Scholz scharfe Kritik übt. Alles, was hier bilateral passiert, ist aufs Engste mit der schwierigen Geschichte dieser beiden Staaten verknüpft. Natürlich gibt es zunehmend Stimmen in Deutschland, die einen Schlussstrich unter die Nazivergangenheit ziehen und die ganzen Belastungen hinter sich lassen möchten. Aber das ist nicht die Haltung der Regierung. Die Sicherheit Israels ist Teil deutscher Staatsräson.
Weiter scheint mir auch die Stimmung in der deutschen Gesellschaft wichtig. Einerseits wächst die Ablehnung gegenüber Israel, andererseits gibt es eine grosse Unsicherheit darüber, wo Kritik am Handeln der israelischen Regierung überhaupt legitim ist und wo Antisemitismus beginnt.
Das zeigt sich dann zum Beispiel darin, dass eine junge Frau aus Israel, die in Berlin wohnt, in der Wochenzeitung «Zeit» sagte, sie würde gerne gegen die Justizreform demonstrieren, fürchte aber, dass das dann von Deutschen als Protest gegen das Land Israel missverstanden würde. Es ist kompliziert.
Grosse Verunsicherung also in Deutschland. Frage an Auslandredaktorin Susanne Brunner, die für uns Israel beobachtet: Diese Verunsicherung – und der entsprechende Positionsbezug des deutschen Kanzlers heute Nachmittag –, wie kommt das in Israel an?
Susanne Brunner: Wer gegen Netanjahus Justizreform demonstriert, hätte sich sicher klarere Worte gewünscht. Gleichzeitig ist demonstrierenden Israelis klar: Niemand kann Israels Premier vorschreiben, was er zu tun hat, schon gar nicht ein deutscher Kanzler. Gegner und Gegnerinnen der Justizreform hätten sich gewünscht, dass Deutschland Netanjahu gar nicht empfangen hätte.
Über 1000 israelische Persönlichkeiten hatten dem deutschen Botschafter in Israel einen Brief übergeben mit der Bitte, Deutschland möge Netanjahu wieder ausladen. Sie wussten jedoch, wie unrealistisch ihre Forderung war. Und auch wenn kurz hingehört wurde, was Kanzler Scholz zu sagen hatte: Seine Worte gingen in den heftigen Protesten des heutigen Tages unter.
Diverse deutsche Politikerinnen und Politiker haben heute ihre Besorgnis über die geplante Justizreform in Israel geäussert. Inwiefern hat das Auswirkungen auf das Handeln der israelischen Regierung?
Diese Regierung hört nicht einmal auf den Präsidenten: Sie will keine Kompromisse. Sie ist überzeugt, dass ihre Mehrheit im Parlament ihr das uneingeschränkte Recht gibt, das zu tun, was sie will. Ohne Rücksicht auf Proteste oder auf die Sicherheitskräfte, die am Limit sind wegen ihrer Mehrfachbelastung, zu denen die Demonstrationen beitragen. Auch wirtschaftliche Verunsicherung ist dieser Regierung egal: Sie verspricht, all das stärke Israels Demokratie. Die Worte von Olaf Scholz gingen bei Netanjahu ins eine Ohr und gleich zum anderen wieder hinaus.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.