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Bundestagswahl 2025 Weidel als Kanzlerkandidatin und die Normalisierung des Extremen

Dann versuchte sich Alice Weidel als Historikerin. Hitler, sagte die AfD-Chefin im X-Gespräch mit US-Milliardär Elon Musk, sei in Tat und Wahrheit ein Kommunist gewesen, ein «sozialistischer Typ» zudem. «Und wir sind das genaue Gegenteil.» Man staunt. Was für eine absurde Verdrehung der Geschichte. Wahr ist: Diktator Hitler bekämpfte die Kommunisten buchstäblich bis aufs Blut, steckte sie in Konzentrationslager, liess sie sterben.

Gleichzeitig ist eines der Hauptnarrative der AfD: «Man darf ja nichts mehr sagen!» Alles sei gesteuert von einem Berliner Regierungsapparat, der jeden Widerspruch unterdrücke. Höhepunkt der staatlichen «Meinungsdiktatur» sei die Corona-Krise gewesen. Wie passt das zusammen? Natürlich, diese Zeit war schwierig, man fuhr auf Sicht und vieles lief gerade auf kommunikativer Ebene nicht optimal. Es gibt einiges aufzuarbeiten.

Was will die AfD, was will Kanzlerkandidatin Weidel?

Am Wochenende wird Alice Weidel offizielle Kanzlerkandidatin. Stellt im sächsischen Riesa das Parteiprogramm vor. Die politischen Ziele der AfD sind der schrittweise Austritt aus der EU, die Annäherung an China und Russland mit gleichzeitiger Distanzvergrösserung zu den USA – oder die Abschaffung des Euros als Währung und Rückkehr zur D-Mark. Im Energiebereich: Mehr Atom, mehr russisches Gas, mehr Kohle. Weil: Den menschengemachten Klimawandel gebe es nicht – nichts sei bewiesen.

Viel Platz im Parteiprogramm der AfD hat die verstärkte Bekämpfung von kriminellen Clans oder der Verschärfung des Asylrechts. Zudem solle sich Deutschland nicht immer nur an das Schlimme erinnern – auch das Schöne brauche eine Erinnerungskultur. 85 Seiten PDF-Datei, klar und transparent. Da weiss man, was man hat. Wirklich?

In den Sozialen Medien gibt sich Weidel viel härter – und da ist sie bei Elon Musk richtig. Dieser bezeichnete Kanzler Olaf Scholz als «inkompetenten Idioten» und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als «antidemokratischen Tyrannen». Man darf nichts mehr sagen? Die AfD-Elite distanziert sich zum Teil von solchen Aussagen – «Na ja, das ist halt Musk, das ist die amerikanische Art der Meinungsfreiheit.» Weitertransportiert werden die Anmassungen aber dennoch. Ein doppeltes Spiel.

Das Extreme ist das neue Normal

Doch ist all das ein Skandal? Nein. Oder besser gesagt: Nicht mehr – was es nicht besser macht. Noch vor ein paar Jahren wären solche Äusserungen in der Spitzenpolitik nicht möglich gewesen. Einen grossen Anteil daran hat auch der designierte US-Präsident Donald Trump. Kanada und Grönland annektieren? Frauen zwischen die Beine greifen – «grab her by the Pussy» – es ist halt Trump. Oder der mögliche kommende Kanzler Kickl in Österreich: Bei der Waffen-SS waren nicht nur Kriminelle? Der politische Gegner ist ein «geistiger Einzeller»? Man zuckt mit den Schultern und ist schockiert, dass man nicht mehr schockiert ist.

Die ständigen Tabubrüche dies- und jenseits des Atlantiks stumpfen ab. Das Extreme wird normal, die Grenzen des Sagbaren verschieben sich immer weiter. So sickert Extremstes in Gesellschaften ein, die totale Überflutung mit Ex-Tabus, mit Lügen und Beleidigungen machen die Menschen müde. Kampfbegriffe wie «Remigration» sickern fast unbemerkt in den allgemeinen Wortschatz ein, werden eben: normal. Gleichzeitig werden Fakten durch Meinungen ersetzt, Tatsachen erodieren. Bestes Beispiel: Der Meta-Konzern mit Facebook und Instagram schafft die Faktenchecker ab. Das Gebrüll ist der neue Diskurs.

Und das wird man ja wohl noch sagen dürfen.

Stefan Reinhart

Leiter der Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten

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Stefan Reinhart ist Leiter der Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten und Chef vom Dienst im Newsroom Zürich. Zuvor war er Deutschland-Korrespondent für SRF.

Hier finden Sie weitere Artikel von Stefan Reinhart und Informationen zu seiner Person.

Rendez-vous, 9.1.2025, 12:30 Uhr

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