Er fühle sich noch immer wie in einem schlechten Traum, sagt Rami El-Chanan über die blutigen Ereignisse der letzten Tage. «Ich kann bis heute nicht begreifen, was da passiert ist», so der Sohn eines Holocaust-Überlebenden.
Sein Freund Bassam Aramin, ehemaliger Kämpfer für die Unabhängigkeit Palästinas, pflichtet ihm bei: «Wir müssen zwar jederzeit damit rechnen, dass etwas geschieht. Aber dieses Ausmass an Gewalt ist unfassbar.»
Eine Welle der Gewalt folgt auf die nächste
Nun drehe wieder die altbekannte Spirale der Gewalt: mehr Blut, Schmerz, Opfer und trauernde Familien, auf beiden Seiten. «Und wir warten auf die nächste Welle, das nächste Mal», sagt Bassam.
«Am Ende stärken wir auf beiden Seiten wieder diejenigen, die später die nächste, noch heftigere Gewaltwelle auslösen werden.» Rami nickt. Die Menschen, die jetzt morden und töten, sagt er, hätten den Verstand verloren. Die Menschen handelten wie Maschinen, angetrieben von Wut – ohne daran zu denken, was nachher kommt. Sie müssten doch auch künftig zusammen leben.
Ein Israeli und ein Palästinenser reichen sich die Hand
Zweifeln die beiden Freunde derzeit am Sinn ihres gemeinsamen Engagements für Frieden und Versöhnung? Rami und Bassam schütteln entschieden den Kopf: «Wir werden weiterhin gemeinsam reden – und gemeinsam handeln.»
Sie wollten wie bisher zusammen Schulklassen besuchen, sagt Bassam – in Israel und den Palästinensergebieten. Vor den Kindern und Jugendlichen reden sie jeweils über den Schmerz nach dem Tod ihrer Töchter, über ihre Wut, und wie sie diese überwunden haben.
Diese Begegnungen, ergänzt Rami, fühlten sich bisweilen an, als würden sie in den Schlund eines aktiven Vulkans steigen: Ihnen schlage zunächst Wut entgegen. Ein Israeli und ein Palästinenser, die sich die Hand reichen, sich nicht hassen und nicht wetteifern, wer das grössere Opfer sei: Das sei für viele provozierend.
Auf beiden Seiten erwartet man von uns, dass wir einander hassen und Rache üben.
Ihr Auftritt wirke dann jeweils wie ein Erdbeben, das für Risse sorge in der Mauer des Hasses, die beide Seiten trenne. «Wie gross auch immer der Schmerz und die Wut sind», ergänzt Bassam, «beide Seiten müssen miteinander sprechen und einander respektieren, um diesen Konflikt zu lösen, den niemand gewinnen kann.»
Der Gegner wird dämonisiert
Der Hass sei mittlerweile auch so gross, weil der Gegner auf der anderen Seite kein Gesicht mehr habe. Begegnungen von Israeli und Palästinensern gebe es kaum mehr.
So sei es einfacher, die, die auf der anderen Seite der Mauern und Grenzzäune lebten, zu entmenschlichen. Die Entmenschlichung sei Voraussetzung dafür, dass die Jungen im Kampf bereit seien, ihr Leben zu opfern.
Egal, ob in der israelischen Armee oder in einer palästinensischen Widerstandsgruppe: Der Gegner werde systematisch dämonisiert. In den Köpfen seien so Mauern entstanden, die viel höher und stärker seien als die realen Mauern aus Beton, die beide Gruppen trennten.
Er habe lange gehadert, als er seine 14-jährige Tochter beim Selbstmordattentat eines Hamas-Terroristen verloren habe, sagt der Israeli Rami. «Auf beiden Seiten erwartet man von uns, dass wir einander hassen und Rache üben.»
Rache bringt unsere Kinder nicht zurück.
Bassam, sein palästinensischer Freund, dessen Tochter von einem israelischen Soldaten erschossen wurde, ergänzt: Die einen stürben innerlich, wenn sie eine geliebte Person verlieren. Die anderen würden hasserfüllt und wollten, dass auch alle anderen so leiden müssen wie sie. «Doch wir haben schliesslich erkannt: Rache bringt unsere Kinder nicht zurück. Wir müssen mehr Brücken bauen zur anderen Seite», sagt Bassam, «nur so können wir überleben.»
Ihre Freundschaft, ergänzt Rami, sei eine dieser Brücken. Die gegenwärtige Eruption der Gewalt sei zwar beängstigend. Aber sie würden sich nicht entzweien lassen. Ihre Arbeit führten sie weiter, solange dies nötig sei: «Irgendwann wird es Frieden geben – nämlich dann, wenn es mehr Überwindung kostet, weiterzukämpfen, als Frieden zu schliessen.»