«Wenn sie hier in Suruç sind, werden wir sie bald in Ankara und Istanbul sehen. Wir werden enden wie Syrien.» Diese drastische Prophezeihung stammt von einem Überlebenden des Anschlags vom Montag – eine Aussage im ersten Schock.
Wie er sind viele in der Türkei überzeugt, die Dschihadisten des sogenannten Islamischen Staats IS seien auf dem Weg, den Terror ins Landesinnere der Türkei zu tragen. Der verheerende Anschlag in der türkisch-kurdischen Grenzstadt Suruç vom Montag vergrössert ihre Angst. Und er nährt längst bestehende Zweifel an der eigenen Regierung.
Türkische Drohkulisse gegen den IS
Präsident Erdogan und sein Ministerpräsident Davutoglu versuchen zwar seit einigen Wochen, die Geister, die sie riefen, loszuwerden. Sie bauen auf Druck der USA eine Drohkulisse gegen den IS auf: An der syrischen Grenze ist die türkische Armee viel präsenter, potentielle Dschihadisten werden daran gehindert, in die Türkei einzureisen oder nach Syrien weiterzufahren.
Auch meldeten die regierungstreuen Medien in den letzten Wochen, dass Dutzende von Verdächtigen aus dem Dunstkreis des IS und der Al-Kaida-nahen Nusra-Front verhaftet worden seien.
Tausende IS-Schläfer in der Türkei?
Oppositionelle und Kritiker von Präsident Erdogan stellen diesen Meldungen ihre eigenen Recherchen und Wahrnehmungen gegenüber: Von 7000 sogenannten Schläfern im Land sprechen sie. Dabei handle es sich um sunnitische Fanatiker, die jederzeit bereit seien, einen Anschlag auszuführen. Und immer noch würden in türkischen Spitälern verletzte IS-Milizionäre behandelt.
Türkische Journalisten haben in den vergangenen Monaten mindestens teilweise nachgewiesen, dass der türkische Geheimdienst Waffen und Munition an islamistische Gruppen in Syrien geliefert oder solche Lieferungen geduldet hat. Derweil weist Erdogan diese Anschuldigungen immer noch weit von sich.
Kurden für Erdogan ebenso schlimm wie der IS
Unterdessen aber bezeichnet der Präsident den IS als Feind. Er scheint zu erkennen, dass die sunntische Terrormiliz ein Risiko für die Türkei ist. Trotzdem bleibt Erdogan dabei: Die kurdischen Kämpfer in Syrien seien eine ebenso grosse, wenn nicht gar noch grössere Gefahr für die Türkei. Dies, obwohl sie die syrische Grenzstadt Kobane von den IS-Terroristen befreit haben.
Kobane wieder aufzubauen war der Plan der am Montag in Suruç ermordeten und verletzten jungen kurdischen und türkischen Aktivisten. Der Zorn der Kurden und vieler Oppositioneller ist gross – sie halten Erdogans Kursänderung für nicht glaubhaft und machen ihn und seine Syrienpolitik mitverantwortlich für das Verbrechen von Suruç.
Mit der Bluttat räche sich der IS einerseits an den Kurden, andererseits warne er Erdogan davor, sich definitiv gegen den «Islamischen Staat» zu wenden, sagen viele Kurden. Vielleicht ist es dafür sowieso schon zu spät. Die Geister die Erdogan rief, bedrohen die Türkei.