SRF News: Wie fiel das Echo auf den ersten Auftritt des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan seit den Wahlen aus?
Thomas Seibert: Überwiegend positiv. Viele waren überrascht von Erdogans versöhnlichem, staatstragendem Ton seiner Rede. Auch die Märkte reagierten positiv auf den Auftritt. Einige Beobachter bezweifelten allerdings, ob Erdogan seine Aussagen wirklich ernst meint.
Der Präsident sagte, er wolle rasch eine neue Regierung. Aber wie diese aussehen könnte, steht in den Sternen. Sicher ist nur, dass die AKP Erdogans nicht mehr allein regieren kann. Wer ist denn der wahrscheinlichste Regierungspartner?
Im Moment ist das die zweitstärkste Partei, die links-nationalistische CHP. Diese Koalition käme auf eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Eine andere Möglichkeit ist ein Bündnis zwischen der AKP und der Nationalistenpartei MHP. Allerdings gibt es für beide Möglichkeiten erhebliche Schwierigkeiten. So verlangen die bisherigen Oppositionsparteien eine Aufarbeitung der Korruptionsvorwürfe gegen die AKP. Weiter fordern sie, dass sich Erdogan an seine verfassungsmässigen Rechte als Präsident halten solle. Bisher hatte sich Erdogan ja in alle Regierungsgeschäfte eingemischt und sogar die Kabinettsitzungen selber geleitet. Das ist für einen künftigen Koalitionspartner der AKP unannehmbar. Zwar erweckte Erdogan in der Rede am Donnerstag zumindest den Anschein , das von nun an nicht mehr machen zu wollen. Doch es ist nicht absehbar, ob er nur der Wolf ist, der ein bisschen Kreide gefressen hat, oder ob das wirklich eine Richtungsentscheidung war.
Wegen des Wahlerfolgs der kurdischen HDP muss sich die AKP ja überhaupt einen Koalitionspartner suchen. Die HDP ihrerseits möchte eine grosse Koalition mit allen Parteien ausser der AKP von Erdogan. Wie realistisch ist das?
Das wäre ja ein Bündnis zwischen den Kurden, den Linksnationalisten und den Rechtsnationalisten. Das ist politisch kaum vorstellbar. So ist die kurdische HDP etwa wesentlich am Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und den Kurdenrebellen von der PKK beteiligt, wohingegen die nationalistische MHP ein Ende dieses Friedensprozesses fordert. Ich halte ein solches Bündnis deshalb für wenig wahrscheinlich.
Offensichtlich erscheinen alle in Frage kommenden Lösungen als unmöglich. Könnte Erdogan deshalb versucht sein, auf Zeit zu spielen und in ein paar Wochen Neuwahlen auszurufen – in der Hoffnung, dass seine AKP dann eine Mehrheit erringen kann?
Nach unbestätigten Berichten aus Ankara ist genau das Erdogans Plan. Er will den Wählern die Unlösbarkeit der Situation vor Augen führen, um dann Neuwahlen auszurufen und seine AKP wieder an die Macht zu bringen. Das ist für Erdogans Partei allerdings sehr riskant: Einerseits haben die Türken von Wahlen die Nase voll – sie hatten innert eineinviertel Jahren drei Wahlen. Ausserdem tritt das Parlament nun so oder so zusammen, ob das Erdogan nun will oder nicht. Dabei könnten die Oppositionsparteien, die gemeinsam über eine Mehrheit verfügen, sofort einen Untersuchungsausschuss zu den Korruptionsvorwürfen gegen die AKP einsetzen. Das könnte die Partei bis zum Wahltag sehr schlecht aussehen lassen. Deshalb wäre eine solche Taktik Erdogans – wenn sie denn stimmt – sehr riskant.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.