Mehmet Adiyaman sitzt unter einem Baum im Schatten. Er trägt eine kurdische Tracht und strahlt patriarchale Autorität aus: Adiyaman ist Chef des Clans der Jyrki, dem das ganze Dorf angehört. Wenn er spricht, schweigen die anderen. «Im Südosten der Türkei hat die Hälfte der Kurden bisher Erdogans AKP gewählt. Tayyep ist kein schlechter Mann, aber jetzt sind wir für die HDP», sagt der Clanchef.
Kurden wählen jetzt HDP
Die Kurden sollten geeint ins Parlament einziehen und dann den Friedensprozess zu Ende führen, meint er. Das sei das Wichtigste für sie. Er fügt an: «Seit zwölf Jahren ist Erdogan an der Macht. Aber wohin führt er das Land, wo sind die Lösungen? Wir wollen Frieden und Gerechtigkeit, keine Tragödie wie in Syrien oder in Irak.»
Der kurdische Stammesälteste ändert also den Kurs. Er hat die Losung ausgegeben, dass nächsten Sonntag die Kurdenpartei HDP gewählt wird, und nicht mehr Erdogans islamisch-konservative AKP. Das ist ein mittleres Erdbeben in der politischen Landschaft: Auch andere kurdische Clans im verarmten und vernachlässigten Südosten der Türkei wenden sich von der AKP ab und der HDP zu.
Enttäuschte Liebe
Memduh Calli, auch er ein Jirki, spricht von grosser, enttäuschter Liebe: «Neun Jahre war ich AKP-Abgeordneter im Stadtparlament von Hakkari. Tayyep Erdogan war für mich ‹Ein und Alles›. Als er krank war, bin ich nach Istanbul gereist. Aber er ist nicht mehr der Mensch, den ich kannte. Er wird zum Diktator. Wir wollen das verhindern.»
Wie Calli haben tatsächlich sehr viele Kurden im letzten Jahrzehnt Erdogan und die Regierungspartei unterstützt, so widersprüchlich dies klingen mag, angesichts des angespannten Verhältnisses zwischen dem türkischen Staat und den Kurden.
Doch sie vertrauten der Wirtschaftspolitik der AKP oder profitierten von ihr. Viele fromme muslimische Kurden überzeugte auch der religiös-islamische Kurs. Nun aber scheint Erdogan viele Kurden an die HDP zu verlieren. Beispielsweise, weil der kurdisch-türkische Friedensprozess harzt, weil der Präsident immer autoritärer wird und weil die IS-Terrormiliz – von Erdogan lange als Gefahr ignoriert – immer bedrohlicher erscheint.
Die Hälfte der Mitglieder sind Frauen
Dazu kommt, dass die HDP eine attraktive Alternative zur AKP ist: «Die Hälfte auf der HDP-Liste sind Frauen, stellen Sie sich das vor», sagt eine Lehrerin an einer Wahlkampfveranstaltung in Hakkari. «So etwas gab es noch nie.»
Die HDP will eine Partei für alle sein: für Kurden, Sunniten, Alewiten, Armenier, Jesiden, Roma, für Andersdenkende, Andersgläubige. Pluralismus und nicht kurdischer Nationalismus steht auf dem Programm. Es geht um soziale Gerechtigkeit und um Meinungsfreiheit. Das zieht in der Türkei, zwei Jahre nach der brutalen Niederschlagung des Gezi-Protestes. Das zieht in einem Land, in dem der Präsident nach der absoluten Macht strebt.
Keine absolute Macht für Erdogan?
Die HDP könnte verhindern, dass die Regierungspartei AKP eine Zweidrittelmehrheit erreicht, die Verfassung ändert und ein Präsidialsystem einführt, das die parlamentarische Demokratie aushebelt. Dafür muss sie am Sonntag die sehr hohe Sperrklausel von zehn Prozent überspringen. Diese Chance besteht, denn die türkische Gesellschaft öffnet sich gegenüber den Kurden. Eine prokurdische Partei wird für einen Teil der Türken wählbar.
«Es ist der einzige Weg zu einem demokratischeren Land», sagt ein junger türkischer Journalist an einer Wahlkampfdemo in Istanbul. Er steht für die Generation Gezi, die sich ausgegrenzt und missachtet fühlt. Und er wählt die HDP, weil sie seine Werte vertritt.
HDP-Chef will einzig Frieden
Stört ihn die Nähe zur PKK, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei, nicht? «Die HDP ist nicht identisch mit der PKK», sagt er. «Präsident Erdogan aber, der den Friedensprozess mit dem inhaftierten PKK-Chef Öcalan selber begonnen hat, rückt die HDP und deren Chef Selahattin Demirtas in die Nähe des Terrors.»
Demirtas, der Anwalt aus Diyarbakir, auf den die Türkei heute schaut, lässt sich nicht provozieren. Er kontert mit Schärfe, aber nie mit Aggressivität. Mit Ruhe, und oft mit Humor. Der 42-Jährige kommt aus dem kurdisch geprägten Osten Anatoliens und wuchs mit dem Kurdenkonflikt auf. Darum habe der Frieden für ihn höchste Priorität, sagt Demirtas. In einer parlamentarischen Demokratie namens Türkei.