SRF: Gemäss den Umfragen wird das Wahlbündnis von Präsident Poroschenko die Parlamentswahlen gewinnen. Warum setzen die Ukrainer ihr Vertrauen in Poroschenko?
Juri Durkot: Das ist in gewisser Weise paradox. So ist Poroschenko ohne Partei, seine «Solidarität» existiert nur auf dem Papier und hat keine ausgebauten Strukturen. Deshalb ist der Präsident auf ein Wahlbündnis mit «Udar», der Partei des Kiewer Stadtpräsidenten Vitali Klitschko, angewiesen. Auf der anderen Seite gibt es viele Wähler, die ihre Stimme grundsätzlich jenen geben, die an der Macht sind. Sie hoffen so auf Stabilität, was angesichts des Krieges im Osten und den Interventionsversuchen Russlands derzeit besonderes Gewicht haben dürfte.
Poroschenko hat in den vier Monaten, seitdem er an der Macht ist, weder die versprochenen Reformen in Angriff genommen, noch den blutigen Konflikt im Donbass, der ostukrainischen Region, gelöst. Wieso vertrauen die Ukrainer ihm trotzdem?
Poroschenko hat bislang keine grossen Fehler gemacht und so auch sein Vertrauen nicht verspielt. Inzwischen wird er zuweilen auch kritisiert, doch der Grossteil der Bevölkerung vertraut ihm immer noch. Zwar hat er den Einmarsch der russischen Truppen im August nicht verhindern können, und es gab auch einige militärische Niederlagen im Krieg gegen die Separatisten. Doch diese Fehler lastet die Bevölkerung eher dem ukrainischen Militär an und nicht dem Präsidenten. Zudem ist seine Rhetorik gegenüber Russland deutlich moderater als jene von Premierminister Jazeniuk, der mit seiner Partei ja auch zu den Wahlen antritt. Das kommt bei den Wählern besser an. Was Poroschenko noch beweisen muss ist, dass er auch Reformen anpacken kann.
Zu diesem Zweck möchte Poroschenko nun stärkste Kraft werden – wie grosse Stimmenanteile muss er holen?
Es ist wichtig für ihn, eine Mehrheit im Parlament zu holen; sicher nicht reichen wird es für eine Verfassungsmehrheit, dafür wird er mehrere Koalitionspartner brauchen. Wahrscheinlich wird Poroschenkos Block aber nicht einmal eine einfache Mehrheit im Parlament erreichen, er liegt bei den Umfragen bei rund 30 Prozent. Entscheidend werden die Direktkandidaten sein: Sie geben sich im Wahlkampf meist als unabhängig, nach der Wahl schliessen sie sich aber oft der Regierungskoalition an. Deshalb ist es denkbar, dass der Poroschenko-Block, zusammen mit Direktgewählten, zumindest in die Nähe der 50-Prozent-Marke kommt. Andererseits sollte der Präsident auch nicht zu stark werden ; er sollte nicht allzu grossen Einfluss aufs Parlament haben. Das ist für die demokratische Entwicklung der Ukraine möglicherweise nicht so gut.
Die angebliche Gefahr des Faschismus ist ein Produkt der russischen Propaganda.
Die Wähler in den umkämpften Gebieten der Ostukraine können nicht wählen gehen – empfinden die Ukrainer die Wahlen trotzdem als legitim?
Ja, eindeutig. Betroffen von den kriegerischen Auseinandersetzungen ist ja nur ein Teil der beiden Verwaltungsbezirke Donezk und Lugansk im Donbass. Sie umfassen insgesamt 32 Wahlkreise, wobei in rund der Hälfte dieser Wahlkreise gewählt werden kann. Etwa anderthalb Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer können also nicht zur Urne gehen.
Mehrere Parteien haben bekannte Faschisten oder Milizionäre auf die Wahllisten gesetzt. Manche Wahlbeobachter befürchten deshalb eine Radikalisierung der ukrainischen Politik. Ist diese Furcht berechtigt?
Nein. Man muss mit den Begriffen vorsichtig sein: «Faschist» stammt aus der russischen Propaganda, die jeden im postsowjetischen Raum, der nicht die russische Meinung vertritt, so nennt. Tatsächlich ist der Einfluss der Nationalisten in der ukrainischen Politik relativ gering. Die beiden rechtsextremistischen und populistischen Parteien werden gemäss den Umfragen an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern und den Sprung ins Parlament wohl nicht schafffen. Was die kandidierenden Milizionäre angeht: Es ist wichtig, sie nun in die Politik, Armee und Polizei einzubinden, damit sie sich nicht selbständig machen und paramilitärische Verbände anführen. Sie gehören zu den Freiwilligenverbänden, welche in der Ostukraine sozusagen die Verteidigung des Landes übernommen haben, als die Armee noch gar nicht vor Ort war. Deshalb ist es womöglich der richtige Weg, wenn einige von ihnen nun fürs Parlament kandidieren. Im Übrigen finde ich, dass die Gefahr des Neonazismus in Russland viel grösser ist als in der Ukraine.
Das Interview führte Philippe Chappuis.