Die Stadt Pirna in Sachsen an einem kalten Winterabend: Die AfD-Basis trifft sich. Wie soll man sich als Journalist vorstellen? Als einer von der sogenannten Lügenpresse. Ein kleiner Trick hilft immer: «Guten Abend. Ich komme aus der Schweiz – dem Land der direkten Demokratie», stelle ich mich vor.
Bei wichtigen Themen haben wir nichts zu melden. Im Gegensatz zu den Bürgern in der Schweiz.
Dafür gibt es immer Applaus. Das Zauberwort heisst «direkte Demokratie». Auch bei den Pegida-Demonstrationen jeden Montagabend in Dresden, wo die Menge «Wir sind das Volk» ruft. Ein Demonstrant dort sagt: «Ich bin für direkte Demokratie. Ich finde, wir sollten darüber entscheiden können, ob wir mehr Zuwanderung wollen oder nicht. All diese Fragen wurden uns nie gestellt. Bei wichtigen Themen haben wir nichts zu melden. Im Gegensatz zu den Bürgern in der Schweiz. Was gibt es denn für einen höheren Souverän als das Volk»?
Der Mann hat Recht und auch nicht. Denn Volksentscheide gibt es in Deutschland schon, doch die finden nur auf kommunaler Ebene und in sämtlichen Bundesländern statt. Recht hat er damit, dass es auf Bundesebene keine Volksentscheide gibt.
Volksentscheide als «Populismuswerkzeug»
Seit den achtziger Jahren sind Volksabstimmungen auf der politischen Agenda in Deutschland. Ursprünglich als Thema der Linken, jetzt als Thema der Rechten und immer als Thema der Opposition. Der Bonner Politologe Frank Decker, hat sich so intensiv wie kaum ein Experte mit dem Thema beschäftigt.
«Der Rechtspopulismus hat sich dieses Themas bemächtigt.» Man beobachte dann etwa selektiv die Erfahrungen in der Schweiz, wo mit einer Volksinitiative das Minarett-Verbot durchgesetzt worden sei. Und möglicherweise spiele die direkte Demokratie eher den Rechten in die Hände.
Die SPD aber war immer für Volksabstimmungen auf Bundesebene. Der Vorschlag scheiterte nach den Wahlen 2013 nur an der CDU. Die CSU hat Volksabstimmungen auf Bundesebene im November beschlossen. Und bei der AfD stehen «Volksentscheide nach dem Schweizer Modell» ganz oben im Parteiprogramm.
«Die AfD wird auch hier den Druck erhöhen.» Denn 80 Prozent der Bevölkerung fordere mehr direkte Demokratie, sagt Decker. Er hat zu diesem Thema vor drei Jahren eine Umfrage durchgeführt.
Auf dem Papier geht das deutsche Modell sogar weiter als das schweizerische.
Volksabstimmungen auf Bundesebene gäbe den deutschen Wählerinnen und Wählern allerdings mehr Rechte als den Stimmbürgern in der Schweiz. «Auf dem Papier geht das deutsche Modell sogar weiter als das schweizerische», sagt Decker. Denn in Deutschland könnten die Bürger nicht nur Verfassungsänderungen begehren, sondern auch einfache Gesetze. Dieses Modell der Volksgesetzgebung sei dann aber automatisch auch das Modell, das für die Bundesebene vorgeschlagen würde.
So etwas gibt es fast nirgends auf der Welt. Nur einige wenige parlamentarische Demokratien in Mittel-Osteuropa, Ungarn, Litauen, die Slowakei und Slowenien haben ein solches System nach 1989 eingeführt. «Der slowenische Fall ist interessant, weil man dort das Instrument wieder zurückgefahren hat. Man hat gemerkt, dass das nicht zu der Logik – Regierung und Opposition – passt», sagt Decker.
Die Angst der Regierung vor dem Volk
Zudem sei die Regierung schon in der Vergangenheit nicht ehrlich gewesen. «In Deutschland gibt man den Menschen ein weitgehendes Versprechen, sorgt dann aber dafür, dass es in der Praxis gar nicht angewendet werden kann.» Die deutsche Politik fürchte sich seit dem Erfolg der AfD aber nicht nur vor Volksentscheiden. Sie fürchte auch das Volk.
Martin Luther - der erste Wutbürger
Und der erste deutsche Wutbürger feiert dieses Jahr ein grosses Jubiläum: Vor 500 Jahren nämlich schlug Martin Luther seine berühmten Thesen gegen das katholische Establishment an die Schlosskirche in Wittenberg. Der Spiegel nannte Luther, der die Bibel für das Volk ins Deutsche übersetzt hat, den ersten Wutbürger.
Frank Decker zieht ein sehr deutsches Fazit über die letzten 500 Jahre Populismus: «Luther verdanken wir den schönen Ausdruck – dem Volk aufs Maul schauen . Das sei vielleicht sogar ein Motto der Populisten. Der ehemalige CSU-Politiker Franz Josef Strauss habe es noch ergänzt mit - aber eben nicht nach dem Munde reden . Und das sei das, was man von demokratischer Politik erwarte.
Soweit das deutsche Modell. Regierung und Opposition treffen, anders als in der Schweiz, im Bundestag aufeinander. In der Schweiz ist das Volk die Opposition. Manchmal sogar Opposition gegen populistische Forderungen.