Kinder, die nach Wasser oder einem Stück Brot betteln – die Schilderungen aus dem Gazastreifen sind schwer zu ertragen. Seit Kriegsbeginn mussten über 1.7 Millionen Menschen – fast 80 Prozent der Bevölkerung – ihr Zuhause verlassen. Das schreibt das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNRWA. 14'000 Menschen seien getötet worden. Im Gespräch beschreibt UNRWA-Chef Philippe Lazzarini das humanitäre Elend im Gazastreifen.
SRF News: Hat sich die Situation der Bevölkerung des Gazastreifens während der Waffenruhe verbessert?
Philippe Lazzarini: Die Bedingungen haben sich nicht grundsätzlich verbessert. Die Bewohner des Gazastreifens freuen sich darüber, dass erstmals seit Kriegsbeginn keine Bomben mehr fallen. Am Montag waren offenbar viele Kinder auf den Strassen. Und wir hatten während der Waffenruhe die Gelegenheit, Hilfsgüter in die verschiedenen UNRWA-Unterkünfte zu bringen. Als UNO-Organisation versorgen wir im Moment eine Million Menschen. Die Situation ist verzweifelt.
Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt, sie fühlten sich vollkommen machtlos, verarmt, gedemütigt.
Ich war vergangene Woche selber im Gazastreifen und habe dort eine Schule besucht, in der wir zurzeit 35'000 Personen beherbergen. Es fehlt den Menschen an allem, sie haben alles verloren, mussten alles zurücklassen. Sie haben ihre Häuser und Wohnungen verloren, haben Verwandte verloren. Sie besitzen nicht einmal mehr eine Decke oder eine Matratze. Seit Kriegsbeginn tragen sie dieselben Kleider. Die hygienischen Bedingungen sind absolut bemitleidenswert. Sie müssen stundenlang warten, um auf die Toilette gehen zu können.
Das heisst, die Hilfe, die während des Waffenstillstands verteilt werden kann, ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein?
Es war ein wichtiges Zeichen, weil wir auch Treibstoff liefern konnten. Dieser Treibstoff wird derzeit an Wasserpumpwerke, Bäckereien und Spitäler verteilt, aber auch an die Notunterkünfte, wo die Menschen jetzt wieder Generatoren betreiben und Wasser brauchen können.
Diese Hilfe hatte also durchaus eine Auswirkung, aber die Bedürfnisse sind so gross, dass es mehr als drei, vier Tage Feuerpause braucht, um eine tatsächliche Verbesserung der Situation im Gazastreifen erwirken zu können.
Schon vor dem Krieg haben Sie gesagt, die UNRWA sei unterfinanziert. Der Krieg hat die Situation noch verschlimmert. Unlängst haben Sie die Befürchtung geäussert, dass die Welt die palästinensischen Flüchtlinge im Stich lässt. Was erwarten Sie nun von der internationalen Gemeinschaft?
Es stimmt, dass die UNRWA bereits in einer nie dagewesenen finanziellen Krise steckte. Das begann vor zehn Jahren, als die Bedeutung des israelisch-palästinensischen Konflikts von der internationalen Gemeinschaft zurückgestuft wurde. Bei Kriegsbeginn haben wir als Erstes die Massaker der Hamas in Israel vom 7. Oktober mit Nachdruck verurteilt. Die Massaker haben zur Ermordung von 1200 Personen und der Entführung von gegen 250 Personen geführt.
Innerhalb von 45 Tagen wurden gegen 14'000 Personen getötet, unter ihnen sind 10'000 Frauen und Kinder. Das ist mehr als die Zahl getöteter Zivilisten im Ukrainekrieg in fast zwei Jahren.
Danach habe ich meine Befürchtung geäussert, dass die Empathie der internationalen Gemeinschaft das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge in Gaza nicht mit einschliesst. Innerhalb von 45 Tagen wurden gegen 14'000 Personen getötet, unter ihnen sind 10'000 Frauen und Kinder. Das ist mehr als die Zahl getöteter Zivilisten im Ukrainekrieg in fast zwei Jahren. Ich erwarte von der internationalen Gemeinschaft, dass sie versucht, diese Feuerpause zu verlängern und in einen richtigen humanitären Waffenstillstand umzuwandeln, damit die Zivilbevölkerung beschützt und versorgt werden kann.
Sie haben schon viele Konfliktsituationen miterlebt. Mir scheint, die Situation in Gaza geht Ihnen besonders nahe. Stimmt dieser Eindruck?
Tatsächlich berührt mich die Situation enorm. Ich kenne die Bevölkerung des Gazastreifens seit dreissig Jahren. Es war mal eine vibrierende Zivilgesellschaft. Die Menschen in Gaza sind Menschen wie Sie und ich. Sie wünschen sich ein normales Leben, sie träumen von einer Karriere, von einer Familie. Was mich besonders schockiert hat: Innert kürzester Zeit wurde eine ganze Bevölkerung ihrer Würde beraubt. Das ist besonders bewegend, wenn Sie eine Schule besuchen. Die Kinder, die normalerweise dort sind zum Lernen, sind jetzt zu Bettlern degradiert, die um Wasser und Brot flehen. Man sieht die Traurigkeit in ihren Augen. Es stimmt: Das ist ausserordentlich bewegend.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.