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E-Governance in der Schweiz «Die Esten haben ein ganz anderes Datenschutzverständnis»

Der Nationalrat debattiert über die Einführung einer elektronischen Identitätskarte. Schweizer Bürger sollen sich im Internet damit gegenüber Behörden oder Firmen ausweisen können. In Estland gibt es diese schon lange. Robert Krimmer beschäftigt sich in Tallinn mit der Digitalisierung von öffentlichen Dienstleistungen. Er ist ein Verfechter dieser Entwicklung.

Robert Krimmer

Professor für E-Governance

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Der Österreicher Robert Krimmer ist Professor für E-Governance an der Technischen Universität in Tallinn, Estland, wo er auch das DigiGovLab leitet.

SRF News: Wozu brauchen Sie im Alltag eine elektronische Identität?

Robert Krimmer: Ich brauche sie zum Beispiel fürs E-Banking. Und wenn ich in ein Firmenportal einsteigen will oder – wie vor kurzem bei der Nationalratswahl übers Internet wählen will – identifiziere ich mich damit.

Auch in der Schweiz überlegt man sich, eine elektronische ID einzuführen. Hier ist die Skepsis in Bezug auf die Datensicherheit gross. Warum haben die Esten keine Bedenken?

Estland hat 1990 mit der Unabhängigkeit neu anfangen können. Die Esten konnten sich mit dieser Technik anfreunden. Sie haben ein ganz anderes Datenschutzverständnis als im deutschsprachigen Raum vorherrscht. Die Nachvollziehbarkeit ist für sie wesentlich wichtiger und ein stärkeres Argument, als dass niemand auf die Daten zugreifen kann.

Es gab auch Hackerangriffe. Hat das die Esten nicht beunruhigt?

Nein, ganz im Gegenteil. Vor anderthalb Jahren ist eine Lücke bei der Identitätskarte aufgetaucht. Da hat der Premierminister die Öffentlichkeit informiert und versprochen, dass das Problem gelöst werde. Diese Offenheit wurde von den Esten goutiert.

Das Digital-Mind-Set ist in Estland wesentlich weiter entwickelt und gehört zum Alltag.

Ist das eine Mentalitätsfrage?

Das Digital-Mind-Set ist in Estland wesentlich weiter entwickelt und gehört zum Alltag. Verständnis für den Computer ist allgegenwärtiger.

Stichwort gläserner Bürger: Die elektronische ID bringt auch eine gewisse Transparenz mit sich. Wird diese nicht missbraucht?

Die Transparenz kann man zu seinem Vorteil nutzen. Die Nachvollziehbarkeit muss hergestellt sein. Eine Karteikarte kann die Sprechstundenhilfe eines Arztes jederzeit einsehen, ohne dass der Patient etwas mitbekommt. Eine digitale Krankenakte hingegen ist nur Ärzten zugänglich und jeder Zugriff wird dokumentiert.

Gibt es keine kritischen Stimmen im Land?

Wenige. Estland wird international als digitaler Vorreiter angesehen. Darauf sind die Esten stolz.

Kann man das Land als Modellfall in Sachen digitaler ID für andere europäische Staaten anschauen?

Man kann es insofern als Modellfall ansehen, als dass die Marktdurchdringung erlangt wurde. Ohne die ID-Karte konnte man zum Beispiel nur 400 Euro überweisen, mit der Karte mehr. Das hat die Akzeptanz der ID gesteigert. Beim ersten E-Voting 2005 waren knapp 70 Prozent der Wähler Erstbenutzer der Karte. Damit wurde ein beispielhaftes System geschaffen. Das heisst aber nicht, dass man die Lösungen eins zu eins übernehmen kann. Von dieser Haltung zum Datenschutz, die die Esten haben, kann in der Schweiz nicht ausgegangen werden.

Wenn wir nicht auf kontrollierbare staatliche Lösungen setzen, dann liefern wir uns privaten Unternehmen komplett aus.

Gibt es aus Ihrer Sicht eine Zukunft ohne elektronische ID?

Der Bürger will komfortabel von zuhause Dienstleistungen wahrnehmen können. Wenn wir nicht auf kontrollierbare staatliche Lösungen setzen, dann liefern wir uns privaten Unternehmen komplett aus. Falls der Staat das nicht zeitgemäss anbietet, werden wir vielleicht mal vom Silicon Valley aus oder später aus China regiert. Um das zu verhindern, müssen wir eigene europäische Lösungen finden.

Das Gespräch führte Susanne Stöckl.

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