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Ein Tag nach dem Kriegsrecht In Südkorea sitzt der Schock tief

Als Präsident Yoon Suk Yeol das Kriegsrecht ausrief, war die Bevölkerung Südkoreas geschockt. Und auch am Tag danach sitzt der Schock immer noch tief.

Was viele heute in Südkorea umtreibt, ist die Frage nach dem Wieso. Wie kam Präsident Yoon darauf, das Kriegsrecht zu verhängen? Das fragt sich auch eine Parlamentsmitarbeiterin, die bei Minustemperaturen an einer Protestkundgebung in Seoul teilnimmt. «Wieso? Wieso? Wieso hat er das getan? War er betrunken oder krank?»

Ich hatte solche Angst. Es ist eine Schande.
Autor: Passantin vor dem Parlament in Seoul Arbeitet seit zehn Jahren im Parlament

Sie arbeite seit zehn Jahren hier im Parlament und habe noch nie so etwas erlebt. Sie zeigt ein Video, das sie am Dienstagabend nach der Ankündigung des Kriegsrechts gemacht hatte. «Hier landet der Armeehelikopter vor dem Parlament. Die Soldaten steigen aus. Ich hatte solche Angst. Es ist eine Schande», sagt die Frau.

Zurück in die Vergangenheit

Eine andere junge Frau, die für die grösste Oppositionspartei arbeitet und seit Dienstag vor dem Parlament gegen Präsident Yoon protestiert, sagt: «Ich dachte zunächst, es seien Fake News.» Das letzte Mal, dass das Kriegsrecht in Südkorea verhängt wurde, sei sie noch gar nicht auf der Welt gewesen.

Wir sind im 21. Jahrhundert, aber er hat uns zurück in die Vergangenheit katapultiert.
Autor: 28-jähriger Demonstrant in Seoul Anhänger der Opposition

Das Kriegsrecht kenne auch er nur aus dem Geschichtsbuch, sagt ein 28-jähriger Anhänger der Opposition. Er fordert wie die anderen an der Kundgebung die Amtsenthebung von Präsident Yoon. «Ich kann es nicht glauben. Wir sind im 21. Jahrhundert, aber er hat uns zurück in die Vergangenheit katapultiert. Ich war so wütend. Überrascht, Traurig.»

Grosse Menschenmenge bei Lichterdemonstration vor Regierungsgebäude.
Legende: Tausende Südkoreanerinnen und Südkoreaner eilten am Dienstag umgehend zum Parlamentsgebäude, um die Parlamentarier zu unterstützen. Auch am Mittwoch gingen die Proteste dort weiter. srf/Samuel Emch

Möglicherweise noch nicht vorbei

Ein Mann, der die Proteste aus ein wenig Distanz beobachtet, will sich keinem politischen Lager zuordnen. Er befürchtet jedoch, Präsident Yoon könnte seine Macht noch einmal ausnützen. «Er kann nochmals falsche Entscheidungen treffen und das Militär missbrauchen. Davor habe ich ein wenig Angst.»

Deshalb unterstütze er nun ein Amtsenthebungsverfahren. Etwas, das er bis gestern Abend nicht gemacht hätte. «Ein Impeachment ist nicht die beste, sondern die letzte Möglichkeit, die Demokratie zu retten», sagt der Mann.  

Erinnerungen an die Militärdiktatur

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Gebäude mit Kuppeldach und Flaggen, Bäume im Vordergrund.
Legende: SRF/Samuel Emch

Die Ausrufung des Kriegsrechts am Dienstag weckt in Südkorea Erinnerungen an die Zeit der Militärdiktatur. Erst 1987 fanden im Land erstmals demokratische Präsidentenwahlen statt. «Dieses Erbe ist auch heute noch sehr stark zu spüren», sagt Journalist und Korea-Kenner Martin Fritz in Tokio. Der zivile und politische Widerstand gegen die Diktatur habe die Zivilgesellschaft stark beeinflusst. Deshalb sei es am Dienstag auch sofort zu Protesten vor dem Parlamentsgebäude gekommen, um das Kriegsrecht parlamentarisch umgehend wieder auszusetzen, was ja auch gelungen ist. Auf der anderen Seite stünden die konservativen Parteien – auch Präsident Yoon gehört einer von ihnen an –, welche die Zeit der Diktatur positiv darstellten.

Als immer noch präsente Folgen des Korea-Kriegs, bei dem Millionen getötet oder in die Flucht getrieben wurden, gebe es keine Einigkeit, wie man mit Nordkorea, Japan und China umgehen solle, so Fritz. «Es fehlt ein nationaler Konsens. Das erschwert es der Zivilgesellschaft, ihre Meinungsverschiedenheiten auszuhalten und auszutragen.» Auch schafften es die beiden politischen Lager in Südkorea nicht, aufeinander zuzugehen und demokratische Lösungen für anstehende Probleme zu finden. «Diese Kompromissbereitschaft fehlt – deshalb muss man sich für die Zukunft auch Sorgen machen, denn das ist eine Gefahr für die Demokratie.»

Ausserdem machte auch die Armee eine schlechte Figur: Sie stellte sich umgehend und ohne Wenn und Aber hinter den Präsidenten und das Kriegsrecht. «Das weckt einige Zweifel, wie demokratisch die Armeeführung denkt», stellt der Journalist fest.

Das Verfahren zur Amtsenthebung hat die Opposition bereits auf den Weg gebracht. Weniger als 24 Stunden, nachdem der Präsident versucht hat, ein Militärregime zu etablieren. Am Freitag oder Samstag dürfte das Parlament bereits über Yoons Impeachment abstimmen.

Menschen halten Schilder bei Protest in städtischer Umgebung.
Legende: Anhängerinnen und Anhänger der Opposition fordern ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten. SRF/Samuel Emch

Was kann das Impeachment bringen?

Doch viele hier, die die Absetzung des Präsidenten fordern, zweifeln, ob das Parlament ihrer Forderung Folge leisten wird. Der Opposition fehlten einige Stimmen für die nötige Zweidrittelmehrheit, sagt ein Oppositionsvertreter.

Die Situation ist verrückt. Es fühlt sich surreal an. Unsere Demokratie ist in einer Krise.
Autor: Vertreter der Opposition in Südkorea

«Seine eigene Partei wird nicht gegen den Präsidenten stimmen, denke ich. Sie werden an ihm festhalten bis zum Ende seiner Amtsperiode», sagt der Mann. Diese endet erst 2027.

Bei vorgezogenen Neuwahlen nach einer Amtsenthebung würde die Partei des Präsidenten sicher verlieren. Das wolle die Regierungspartei nicht riskieren, auch wenn er versucht habe, die Demokratie in Südkorea mit dem Kriegsrecht auszuhebeln. «Die Situation ist verrückt. Es fühlt sich surreal an. Unsere Demokratie ist in einer Krise», sagt der Vertreter der Opposition.

Gleichzeitig sei er aber beeindruckt, wie viele Leute sich wehrten und auf die Strasse gingen. So wie es auch heute wieder landauf, landab Zehntausende taten. Trotz Temperaturen unter Null.

Echo der Zeit, 4.12.2024, 18:00 Uhr;stal

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