«Seit langem wiederhole ich, dass die Frage der Migration eine europäische ist. Und das ist keine Redewendung», sagte Italiens Innenminister Marco Minniti der Zeitung «La Repubblica». Für die Regierung in Rom ist die Zeit der Sonntagsreden über «europäische Solidarität» vorbei: Sie droht mit einem Hafenverbot für Flüchtlingsschiffe.
Rund 10'000 Flüchtlinge sind in den letzten vier Tagen auf dem Mittelmeer aufgenommen und mehrheitlich nach Italien gebracht worden. Seenotretter wie SOS Méditerranée kritisieren Rom wegen seiner Drohung, fordern aber gleichzeitig: «Italien steht schon zu lange an der Frontlinie dieser humanitären Katastrophe. Es braucht eine koordinierte Antwort der europäischen Staaten.»
Europa schaut weg
Eben diese Antwort lässt weiter auf sich warten, sagt Christopher Hein, Gründer des Italienischen Flüchtlingsrats (CIR), eines Hilfswerks mit Sitz in Rom: «Ich verstehe sehr gut, dass Italien sagt: Jetzt ist es vorbei mit den schönen Worten und Erklärungen von Solidarität.» Denn realpolitisch geschieht wenig bei der Bewältigung des gemeinsamen jahrelangen Problems, das auf eine Lösung wartet.
Italien könnte die Menschen an die Grenzen der Schweiz, Frankreichs und Österreichs bringen.
Als neustes Beispiel habe erst letzte Woche der Europäische Rat einen neuen Massnahmenplan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise verabschiedet. «Und da stand nichts Konkretes drin. Die einzige konkrete Massnahme ist, die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache zu verstärken», moniert der Migrationsexperte und Völkerrechtler.
Dies bedeute aber, Flüchtlinge und Migranten unberechenbaren Gefahren auszusetzen. Seit Jahren berichten Menschenrechts-Organisationen über das Flüchtlingselend im Bürgerkriegsland Libyen: Mafiöse Netzwerke missbrauchen die Gestrandeten als Arbeitssklaven, viele vegetieren unter menschenunwürdigen Bedingungen in Gefangenenlagern vor sich hin.
«Die Konsequenz [der verstärkten Zusammenarbeit mit Libyen] wäre, dass die Menschen auf unbestimmte Zeit in Folterzentren eingesperrt werden», sagt Hein.
Was Italien tun kann, aber nicht tun sollte
Nur dürfte die Drohung der italienischen Regierung, alle Häfen zu schliessen, eine leere bleiben. Auch Italien müsse sich an internationale Regelwerke halten, und diese sähen vor, dass Rettungsschiffe den nächsten sicheren Hafen ansteuern müssen: Ein Schiff unter deutscher Flagge im Mittelmeer könne schliesslich nicht mit hunderten aus Seenot Geretteten nach Hamburg fahren. Hein geht davon aus, dass die Massnahme «diskutiert wird und dann doch wieder in den verschiedenen Kanälen verschwindet».
Doch Italien könnte noch zu ganz anderen Mitteln greifen, sagt Hein: «Um es drastisch ausdrücken: Italiens einzige Möglichkeit, die anderen Länder Europas aufzurütteln, wäre zu sagen: Wir bringen die Menschen an die Grenzen der Schweiz, Frankreichs und Österreichs – und dann seht zu, was ihr mit ihnen macht.»
Gut beraten wäre Italien allerdings nicht, diese ultimative Eskalationsstufe zu zünden, glaubt Hein. Nicht nur, weil diese Verletzung des Schengen/Dublin-Systems massive Kritik nach sich ziehen würde. Denn Italien steckt mitten in einer schweren Finanzkrise und ist auf Goodwill – und vor allem Geld – aus Brüssel angewiesen: «Für Rom spielen Argumente eine Rolle, die nichts mit Asyl und Migranten zu tun haben», so Hein.
Wie weiter?
Auch wenn Italien letztlich stillhalten sollte: Die Flüchtlingsströme übers Mittelmeer dürften Europa noch auf unbestimmte Zeit beschäftigen. Angesichts der dramatischen Erfahrungen, die viele der Menschen in Libyen und auf ihrer Überfahrt nach Europa machen, stellt sich die Frage: Warum tun sie sich das überhaupt an?
Aus zahllosen Gesprächen, die sein Hilfswerk mit Flüchtlingen und Migranten geführt hat, weiss Hein: «Sie kennen die Gefahren», aber trotzdem würden sie lieber Tausende Euro an Schmuggler zahlen, als in Libyen zu bleiben oder in ihre Heimat zurückzukehren, «das ist das Erschreckende», schliesst Hein.