In Russland werden zu wenig Kinder geboren. Die konservative Machtelite macht nun Druck auf die Frauen. Sie sollen weniger abtreiben, dafür aber früher und viel mehr Kinder gebären. «Scheinlösungen», sagt die russische Frauenrechtlerin Mari Davtyan und fordert andere Ansätze.
SRF: Die russische Geburtenrate ist im Sinkflug. Konservative Kräfte, auch Frauen, fordern mitunter ein Abtreibungsverbot für Privatkliniken. Präsident Wladimir Putin seinerseits sagte unlängst, dass es früher in russischen Familien sieben oder noch mehr Kinder gegeben habe. Man solle diese Traditionen wieder beleben. Was sagen Sie dazu?
Mari Davtyan: Internationale, aber auch russische Demografinnen und Demografen zeigen klar auf, dass die russischen Probleme mit dem Bevölkerungswachstum nicht erst gestern begonnen haben. Wir hatten zum Beispiel einen tiefen demografischen Graben in den 1990er-Jahren, als es schwere Krisen gab. Das wirkt bis heute nach. Natürlich kann man jetzt schöne Reden halten über die Geburtenrate. Aber wir leiden halt vor allem auch an einer zu hohen Sterblichkeit, vor allem bei den Männern. Das ist das grosse Problem. Zu meinen, die Frauen würden jetzt einfach massenhaft sieben, acht Kinder gebären. Das ist doch Blödsinn.
Und die Forderungen nach Abtreibungsverboten?
Es ist doch bestens bekannt, dass eine starke Einschränkung von Abtreibungen sich nicht auf die Demografie auswirkt. Die Frauen finden andere Wege. Vor allem in der heutigen, modernen Welt.
Sie verzichten auf ein zweites oder sogar drittes Kind, weil es ihnen an politischer, aber auch wirtschaftlicher Stabilität fehlt.
Worauf führen Sie die sinkenden Geburtenzahlen zurück?
Wir haben selbst Studien gemacht und sehen auch die Resultate anderer Umfragen. Dort sagen die Frauen klar: Sie verzichten auf ein zweites oder sogar drittes Kind, weil es ihnen an politischer, aber auch wirtschaftlicher Stabilität fehlt. Eigentlich müssten also die Mächtigen nur den politischen Kurs ändern. Aber das wollen sie ja nicht. Darum tun sie einfach so, als ob sie die Probleme lösen würden. Sie erlassen einfach irgendwelche Gesetze, um irgendetwas zu verbieten. Diese bringen nicht viel, schränken in erster Linie die Rechte der Frauen ein. Das ist Augenwischerei.
Und trägt die Bevölkerung das mit?
Ich würde nicht sagen, dass diese Positionen massenweise unterstützt würden. Wir haben in Russland einen sehr aktiven traditionalistischen und konservativen Flügel, den es schon vor dem Krieg gab. Sie versuchen, ihren Einfluss gelten zu machen und sagen, sie seien viele. Und in der russischen Propaganda ist auch sehr oft die Rede von den traditionellen Werten.
Die Grundeinstellung einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ist viel moderner, demokratischer und liberaler, als man meinen könnte.
Auf den ersten Blick unterstützen das natürlich viele, vor allem solche, die nicht so im politischen oder gesellschaftlichen Leben aktiv sind. Aber wenn du dann tiefer gräbst und nachfragst, dann sieht es anders aus. Seid ihr dafür, dass Frauen Bildung erhalten? Ja, klar. Seid ihr für Frauenrechte? Ja. Für den Zugang zu Abtreibung? Ja. Die Grundeinstellung einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ist viel moderner, demokratischer und liberaler, als man meinen könnte.
Das Justizministerium veröffentlicht regelmässig freitags Listen mit Personen und Organisationen, die als «Ausländische Agenten» gebrandmarkt werden.
Natürlich schaue ich mir die Listen jeden Freitag an. Und wir bereiten uns jeweils moralisch darauf vor. Aber soll ich jetzt deswegen Angst haben? Das wäre dumm.
Sitzen Sie bereits auf Ihren Koffern?
Sagen wir so: Es gibt einen Plan B.
Das Gespräch führte Christof Franzen.