Die Taliban stehen vor den Toren Kabuls. Was dies für die westliche Politik bedeutet, erläutert Markus Kaim. Er ist Experte für internationale Sicherheitspolitik.
SRF News: Kaum jemand hat mit einer so schnellen Machtübernahme der Taliban gerechnet. Nun ist sie offensichtlich nur noch eine Frage der Zeit. Warum ist das so schnell gegangen?
Markus Kaim: Die Hauptgründe sind die mangelnde Moral und Loyalität der afghanischen Sicherheitskräfte. Viele westliche Hauptstädte, die an einer Nato-Mission beteiligt waren, haben immer wieder darauf verwiesen, wie erfolgreich die Nato beim Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte gewesen sei.
Wir haben völlig übersehen, dass in einem Land mit ethnischen Rivalitäten und Gruppierungen, die politische Loyalität nicht zwingend der Zentralregierung von Präsident Ashraf Ghani gehört, sondern anderen Leuten.
Das mag zutreffend gewesen sein. Doch offensichtlich haben wir völlig übersehen, dass in einem Land mit ethnischen Rivalitäten und Gruppierungen, die politische Loyalität nicht zwingend der Zentralregierung von Präsident Ashraf Ghani gehört, sondern anderen Leuten. Nur so ist zu erklären, dass die Armee innerhalb von wenigen Tagen zusammengeschmolzen ist, viele Soldaten ihre Waffen und Uniformen von sich geworfen, ganze Distrikte kampflos übergeben und das Land einfach verlassen haben.
Was heisst das für die Zivilbevölkerung, wenn die Taliban die Macht wieder übernehmen?
Die einen behaupten, die Taliban würden zu einer Situation vor 2001 zurückkehren, bevor sie vertrieben wurden. Die anderen behaupten, die Taliban seien eben nicht mehr die Taliban von damals.
Es scheint, dass bei vielen der westlichen Errungenschaften – wenn ich die so nennen darf – die Uhr zurückgedreht wird.
Indizien haben wir aus den Gebieten, die in den letzten Tagen und Wochen bereits von den Taliban besetzt worden sind. Da scheint es doch eher so zu sein, dass bei vielen der westlichen Errungenschaften, wenn ich die so nennen darf, die Uhr zurückgedreht wird. Stichworte dazu sind Mädchenbildung, Frauenrechte, freie und faire Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, freie Medien und vieles andere mehr. Dies sind die Vorzeichen eines islamischen Emirats. Und diese sind für viele Menschen keine Verbesserung ihrer Lebenssituation, sondern eine Verschlechterung.
Es sieht momentan danach aus, als ob es keinen militärischen Widerstand gegen die Machtübernahme der Taliban gäbe. Heisst das, der Krieg in Afghanistan ist beendet?
Das sehe ich genau so. Es gibt keine militärisch relevante Kraft, die sich den Taliban noch entgegenstellen könnte. Und selbst wenn die Taliban ihre Herrschaft nicht über das gesamte Staatsgebiet Afghanistans ausweiten können, sind sie für die westliche Politik nun die dominante Grösse, mit der zu rechnen ist.
Vor zwei, drei Wochen sind bereits hochrangige Taliban-Delegationen in Moskau und Peking empfangen worden.
Was bedeuten die Ereignisse für die Sicherheitslage in der Region?
Kurzfristig bedeutet dies, dass es eine Flüchtlingsbewegung gibt. Und es hat eine Änderung in den regionalen Kräfteverhältnissen gegeben. Die USA ziehen sich aus der Region zurück und dieses Vakuum wird von anderen gefüllt, vor allem von Russland und China. Vor zwei, drei Wochen sind bereits hochrangige Taliban-Delegationen in Moskau und Peking empfangen worden. Dort ist ihnen klargemacht worden, was diese beiden Akteure von ihnen erwarten.
Bedeutet die Rückkehr der Taliban jetzt, dass terroristische Gruppierungen weltweit wieder erstarken?
Zumindest ist es wie ein symbolischer Sieg islamistischer Gruppen über den Westen. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Ob jetzt wieder Anschläge im Westen drohen, bleibt abzuwarten. Die amerikanischen Geheimdienste haben vor kurzem eine Analyse vorgelegt, die davon ausging, dass es zwei Jahre dauern würde, bis Al-Kaida wieder handlungsfähig im Sinne von Anschlägen in westlichen Metropolen wäre.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.