«Fragen kannst Du stellen, wenn Du erwachsen bist», beschied die Lehrerin dem 10-jährigen Omar schnippisch. Doch als es dann soweit war, marschierten im Irak die Amerikaner ein. Dann die Extremisten. Von letzteren lernte Omar Mohammed, dass Fragen töten können. «Die IS-Kämpfer exekutierten die Leute aus vielen Gründen. Oft einfach, weil sie Fragen stellten.»
Undercover-Historiker
Geboren 1986, während des Iran-Irak-Kriegs, wuchs Omar Mohammed mit 5 Brüdern und Schwestern auf. Der Vater Wollhändler, die Mutter unterrichtete. In die Moschee seien sie kaum gegangen in Mossul. Eine Stadt, die seit Jahrhunderten ein Schmelztiegel verschiedener Religionen und Kulturen war.
Das änderte sich mit dem Einmarsch der IS-Milizen 2014, die aus der Stadt eine fundamentalistische Bastion machten. «Es waren nicht nur 300 Bewaffnete, die Mossul eroberten. Es war eine Ideologie, welche die Stadt besetzte», sagt Omar Mohammed. «Die war schlimmer als jede IS-Armee. Denn sie verfälschte die Geschichte.»
Als frischgebackener Historiker sah es Omar Mohammed als Pflicht an, die Geschichte Mossuls zu schützen. «Sonst hätten wir nur ein Narrativ, jenes des IS.» Praktisch über Nacht wurde er zum Undercover-Historiker. Auf seinen Streifzügen durch die besetzte Stadt sprach er mit gelangweilten Checkpoint-Posten, mit blutgierigen IS-Kämpfern, mit verängstigten Ladenbesitzern; war Zeuge von Verhaftungen, von Exekutionen und Steinigungen.
Unermüdlich trug er Informationen, Fakten, Namen zusammen – und ging damit online. Sein Motto: Traue keinem, dokumentiere alles, und zwar vorurteilslos. Sein Blog «Mosul Eye» wurde bald zu einer auch international beobachteten Informationsquelle.
Jahrelange Anonymität
Weder seine Familie noch seine Freunde wussten von seiner gefährlichen Nebenbeschäftigung. «Mir war immer bewusst, dass mich der IS finden und ich getötet werden könnte», sagte Omar Mohammed bei einem Treffen in Paris, wo er sich derzeit aufhält. «Das Risiko, die Angst haben mich immer begleitet, jeden Tag.»
Mir war immer bewusst, dass mich der IS finden und ich jederzeit getötet werden könnte.
Zum Schutz seiner Familie setzte er sich 2016 mit seinen Aufzeichnungen in die Türkei ab, dokumentierte die Geschehnisse aber weiter. Erst Monate nach der Befreiung von Mossul gab er sich als Autor des «Mosul Eye» zu erkennen und lancierte nach der Zerstörung der Altstadt mit seinem Blog eine Spendenaktion, um die von den Dschihadisten zerstörten Bibliothek wiederaufzubauen.
Unlängst organisierte er, dass ein Konzert in Linz live nach Mossul übertragen wurde. Wie zur Zeit der Besatzung versucht er, seiner Stadt beizustehen. Doch was die Zukunft angeht, ist Omar Mohammed wenig optimistisch: «Die Zerstörung ist dermassen gross, sie ist überall, auch in der Politik, vor allem aber in den Köpfen der Leute. Wir haben Tausende Kinder, die nur Terrorismus erlebt haben. Sie werden Jahre brauchen, um zu heilen.»
Auch bei ihm selbst hinterliessen die erlebten Gräueltaten Spuren. «Zu sehen, wie ein Mensch von einem anderen Menschen umgebracht wird – das zerstört all Ihren Glauben, ob religiös oder nicht. Denn man fühlt sich nutzlos, man kann nichts tun – das wird Sie begleiten, ein Leben lang.»
Heute lebt Omar Mohammed als anerkannter Flüchtling in Europa, schreibt an seiner Dissertation, führt ein «normales» Leben. Doch noch immer schaut er über seine Schulter. «Ich bin nirgends sicher.»