Nach den schweren Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet steigt die Zahl der Todesopfer weiter. Sicher ist: Zehntausende Menschen verloren am Montag ihr Leben, wurden verletzt oder liegen noch immer unter den Trümmern. Tausende Häuser fielen in sich zusammen oder wurden stark beschädigt und sind nicht mehr bewohnbar. Der Journalist Thomas Seibert in Istanbul schildert die aktuelle Lage am Dienstagmorgen.
SRF News: Thomas Seibert, wie ist die Situation im Katastrophengebiet?
Thomas Seibert: Wegen Schnee- und Regenfällen ist die Lage teilweise sehr schwierig. Es liegen immer noch mutmasslich mehrere Tausend Menschen unter den Trümmern. Vielerorts sind die Zufahrtswege versperrt und es fehlen Fahrzeuge, um die Helferinnen und Helfer ins Katastrophengebiet zu bringen.
Viele Helferinnen und Helfer sitzen an den Flughäfen fest.
Viele von ihnen sitzen deshalb an den Flughäfen fest. Immer noch auf internationale Hilfe warten die Rebellengebiete auf der syrischen Seite. In den vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten helfen offenbar russische Soldaten.
1999 ereignete sich letztmals ein ähnlich verheerendes Erdbeben in der Region. Offenbar wurde seither nicht überall möglichst erdbebensicher gebaut. Könnte dieses Versäumnis politische Folgen für Präsident Recep Tayyip Erdogan haben?
Das könnte Erdogan durchaus schaden, denn schliesslich regiert er die Türkei seit 20 Jahren. Darum trägt er – zumindest gemäss der politischen Opposition – die Verantwortung dafür, dass immer noch sehr viel Pfusch am Bau passiert.
Es gibt Vorwürfe der Vetternwirtschaft und der Korruption gegen die Regierung. Diese Vorwürfe werden jetzt wieder laut, auch wenn man sich bei der Opposition angesichts des katastrophalen Ausmasses der Schäden und der vielen Opfer noch zurückhält.
Wird Erdogan die Katastrophe für seinen Wahlkampf – am 14. Mai werden Parlament und Regierung neu gewählt – nutzen?
Erdogan wird es jedenfalls versuchen. Bereits jetzt streichen Erdogan und seine Regierung die riesige Dimension der Katastrophe heraus, um eventuelle Unzulänglichkeiten bei den Rettungsarbeiten zu rechtfertigen.
Erdogan dürfte versuchen, die Türkinnen und Türken hinter sich zu scharen.
Auch die siebentägige Staatstrauer ist ein Zeichen dafür zu sagen: Das ist eine Jahrhundertkatastrophe, deshalb kann unmöglich alles perfekt klappen. Erdogan dürfte versuchen, die Türkinnen und Türken hinter sich zu scharen und jenen, die das nicht tun, vorwerfen, sie seien gegen die Türkei.
Wird die Katastrophe Erdogan am Ende politisch eher nützen oder schaden?
Das kommt darauf an, wie die Rettungsarbeiten verlaufen. Falls überall rasche Hilfe kommt, kann das für die Regierung sicher ein Vorteil sein. Andernfalls kann sich die Stimmung gegen die Regierung wenden. Erdogan stellt sich im Wahlkampf als starker Mann dar, der die Türkei gross gemacht hat. Wenn jetzt bei den Rettungs- und Bergungsarbeiten versagt wird, könnte das für ihn zum Nachteil werden.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.