Ein türkisches Forschungsschiff befindet sich in Gewässern, die Griechenland für sich beansprucht. Begleitet wird es von türkischen Kriegsschiffen. Hintergrund des Streits um Seegrenzen sind vermutete Erdgasvorkommen in der Ägäis. Journalistin Corinna Jessen erklärt die Zusammenhänge.
Warum gelingt es Griechenland nicht, das türkische Forschungsschiff zu vertreiben?
Griechische Kriegsschiffe haben das türkische Schiff Oruc Reis alle 15 Minuten aufgefordert, die Region zu verlassen. Einen ganzen Tag lang bekamen sie keine Antwort. Am Dienstag forderte die türkische Seite die Griechen ihrerseits auf, ihren Festlandsockel zu verlassen. Die Türkei besteht demnach auf ihren rechtlich nicht abgesicherten Ansprüchen. Der griechische Aussenminister hat aber unmissverständlich klargestellt, dass Griechenland seine Souveränitätsrechte verteidigen werde.
Diese Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei sind nicht neu. Wie gefährlich ist die Situation jetzt?
Die Spannungen dauern schon seit Jahrzehnten an, sind aber in diesem Jahr eskaliert. Den Versuch der Türkei im März, Tausende von Geflüchteten dazu zu instrumentalisieren, die griechische Landgrenze zu stürmen, haben die griechischen Streitkräfte erfolgreich abgewendet. Weiter hat die Türkei im vergangenen Monat versucht, südlich von Kreta nach Erdgas zu suchen. Diese Eskalation hatte damals die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel entschärft. Jetzt aber liegen sich Teile zweier hochgerüsteten Flotten mit dem Finger am Abzug gegenüber. Es scheint, jede Seite warte nur darauf, dass die andere die Nerven verliert. Und das ist gefährlich.
Das türkische Schiff soll nach Erdgas forschen. Ist das nach griechischer Lesart tatsächlich eine Forschungsexpedition?
Ernsthafte seismologische Forschung kann die Oruc Reis momentan kaum durchführen. Dazu machen die begleitenden Kriegsschiffe zu viel Lärm für ihre Sensoren. Aber es geht um eine Machtdemonstration. Die Türkei will zeigen, dass sie im östlichen Mittelmeer der herrschende Spieler sei, gemäss wörtlichen Bekundungen Ankaras.
Verfolgen Sie die Position der Oruc Reis:
Was könnte die Türkei bewogen haben, gerade jetzt eine Eskalation zu provozieren?
Die Türkei will den griechischen Inseln der Ägäis keinen Festlandsockel zugestehen. Doch Griechenland hat in der vergangenen Woche mit Ägypten seine Seegrenzen abgesteckt, zwar nur teilweise, aber völlig rechtskonform.
Die EU stellt sich hinter Griechenland. Gleichzeitig will sie die Türkei und Griechenland zu Gesprächen bewegen. Wie steht Griechenland dazu?
Athen fordert Ankara schon seit Jahren auf, zur Festlegung des Festlandsockels vor den Internationalen Gerichtshof nach Den Haag zu gehen. Ankara weigert sich konstant. Vielleicht will aber auch Athen seine Maximalforderungen nicht aufgeben. Zum Beispiel will es der winzigen Insel Kastellorizo mit knapp zwölf Quadratkilometern Fläche eine ausschliessliche Wirtschaftszone von 200 Seemeilen in alle Richtungen zugestehen. Nicht zufällig ist diese Region im griechisch-ägyptischen Abkommen ausgespart worden. Und nicht zufällig liegen sich momentan genau dort die Kriegsflotten gegenüber.
Sind Sie beunruhigt?
Ja. Die Ausweitung des türkischen Einflusses ist seit Jahrzehnten eine Konstante der türkischen Aussenpolitik, und der jetzige türkische Präsident Erdogan scheint nicht nur einem nationalistischen Grössenwahn verfallen zu sein, sondern er steht inzwischen innenpolitisch so unter Druck, dass er kaum berechenbar ist.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.