Im Herbst 2018 wurde der saudische Journalist Jamal Khashoggi im saudi-arabischen Generalkonsulat in Istanbul umgebracht. Mit harten Worten gegen Riad gelobte der türkische Präsident Erdogan damals die Aufklärung und leitete eine fast vierjährige Eiszeit mit den Saudis ein. Mit dem heutigen Besuch beim Kronprinzen bin Salman in der Hafenstadt Jeddah lanciert er nun den Neuanfang. Die Kehrtwende werde Erdogan seiner Wählerschaft noch erklären müssen, sagt der Journalist Thomas Seibert in Istanbul.
SRF News: Welches Ziel verfolgt Erdogan mit seinem Besuch in Saudi-Arabien?
Thomas Seibert: Der Besuch soll die Eiszeit zwischen der Türkei und Saudi-Arabien beenden. Erdogan erhofft sich vom Neuanfang mit Riad Milliardeninvestitionen in der Türkei. Er braucht Geld für die krisengeplagte türkische Wirtschaft, in einem Jahr stehen Wahlen an. Saudi-Arabien boykottierte wegen der türkischen Haltung im Khashoggi-Mord türkische Importe. Das soll jetzt aufhören. Politisch verspricht sich Erdogan einen weiteren Schritt der Türkei aus der regionalen Isolation.
Erdogan brachte den saudischen Kronprinzen damals indirekt mit dem Mord am Journalisten Khashoggi in Verbindung. Ist das jetzt vergeben und vergessen?
Das ist vergeben und vergessen. Die Türkei hat ihren eigenen Strafprozess gegen die mutmasslichen saudischen Mörder von Khashoggi Anfang April eingestellt. Das war die grösste Hürde bei der Wiederannäherung zwischen den Ländern. Die Türkei hat also praktisch die Akte geschlossen und will die Aufklärung des Falles jetzt den saudischen Behörden überlassen. Damit wurde der Weg frei für den jetzigen Besuch Erdogans in Saudi-Arabien.
Bleibt nun die Aufklärung des Falls Khashoggi auf der Strecke?
Das befürchten jedenfalls viele Menschenrechtlerinnen und Beobachter. Eigentlich glaubt niemand daran, dass die Saudis an einer ehrlichen Aufarbeitung des Falles interessiert sein könnten. Die Kehrtwende von Erdogan widerspricht auch seinen früheren Aussagen, wonach die türkische Justiz die Täter zur Rechenschaft ziehen sollte. Aber es gibt ein altes Sprichwort in der türkischen Politik: Gestern war gestern, heute ist heute. Erdogan passt sich neuen Zwängen an.
Was verbindet die Länder sonst noch, abgesehen davon, dass sie den Khashoggi-Mord vergessen wollen?
Erdogan wie auch der Kronprinz haben ein sehr schwieriges Verhältnis zu den USA und Präsident Joe Biden. Dieser bezeichnete beide als Autokraten und hält sie auf Armeslänge. Dieser Anti-Amerikanismus führt auch dazu, dass Erdogan und der Kronprinz in der Region wieder enger zusammenarbeiten wollen. Mit einem anderen wichtigen Staat am Golf, den Vereinigten Arabischen Emiraten, hat sich Erdogan bereits ausgesöhnt und war da schon auf Besuch. Der heutige Besuch bei den Saudis schliesst also dieses Kapitel ab.
Was kann Erdogan für die Türkei in Saudi-Arabien erreichen?
Es geht um Geld und einen politischen Neuanfang, der die Türkei in der Region auch handlungsfähiger machen könnte. Zusammen mit den VAE etwa könnte Erdogan etwa den Syrien-Konflikt neu angehen. Erdogan muss zwar nun die Kehrtwende seinen Wählern erklären, die damals sehr entsetzt über den Khashoggi-Mord waren. Aber bis zu den Wahlen ist noch Zeit. Und Erdogan hat schon öfters bewiesen, dass er sich auf dem Absatz drehen kann, wenn es ihm passt. Auch diesmal versucht er es wieder.
Das Gespräch führte Claudia Weber.