Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wird heute Abend in Brüssel erwartet. Er trifft sich dort mit der EU-Spitze, um über die Lage in Syrien und an der türkisch-griechischen Grenze zu beraten.
Letzte Woche hatte die Türkei die Grenze für Migranten und Flüchtlinge einseitig geöffnet – praktisch ohne Folgen für die EU. Deshalb könnten Verhandlungen für ein neues Flüchtlingsabkommen jetzt in Reichweite liegen, sagt der Journalist Thomas Seibert.
SRF News: Was erhofft sich Erdogan vom Treffen mit der EU-Spitze in Brüssel?
Thomas Seibert: Erdogan will einerseits eine Fortschreibung des Flüchtlingsabkommens mit der EU, in dessen Rahmen die Türkei Geld für die Betreuung der dreieinhalb Millionen syrischen Flüchtlinge im Land erhält. Er will aber auch eine aktivere EU-Politik an der Seite der Türkei im Syrienkonflikt.
Was möchte die Türkei in einem Anschlussabkommen aushandeln?
Erdogan will weitere Milliarden von der EU. Ausserdem möchte er, dass das Geld künftig direkt in die türkische Staatskasse fliesst. Bislang fördert die EU direkt Projekte in der Türkei, die syrischen Flüchtlingen zugutekommen. Würde der Zahlungsmodus im Sinne Erdogans geändert, verlöre die EU jedoch die Kontrolle darüber, wofür das Geld ausgegeben wird.
Erdogan möchte, dass die EU-Milliarden direkt an die Türkei ausbezahlt werden.
Zudem will Erdogan von der EU, dass sie die bereits im ersten Flüchtlingsabkommen gemachten Zusagen umsetzt. Dazu gehört insbesondere die Visafreiheit für Türken bei Reisen in die EU.
Vor gut einer Woche hat Erdogan die türkische Grenze zu Griechenland und damit zur EU für Flüchtlinge und Migranten geöffnet. Hat er damit den eigenen Verhandlungsspielraum eingeschränkt?
Ja, das hat er. Die Türkei ist damit gescheitert, die EU mit einem neuen Flüchtlingsansturm zu erpressen. Offenbar hatte Ankara nicht damit gerechnet, dass Griechenland die Grenze praktisch hermetisch abriegeln kann. Insofern ist das grosse Drohpotenzial, das die Türkei während Jahren gegenüber der EU eingesetzt hat – die Grenzen zu öffnen und Europa mit einer neuen Flüchtlingswelle zu überziehen – in sich zusammengefallen.
Die Türkei hat nicht damit gerechnet, dass Griechenland die Grenze hermetisch abriegeln kann.
Die Türkei hat mit der Grenzöffnung ausserdem einen grossen Teil des Respekts verspielt, den sie sich durch die Aufnahme von dreieinhalb Millionen syrischen Flüchtlingen erworben hatte.
Was kann die Türkei der EU nach Wegfall dieses Trumpfes noch bieten?
Die Türkei ist für die EU in der Flüchtlingsfrage nach wie vor sehr wichtig, weil sie geografisch zwischen Europa und den Krisenherden im Nahen Osten liegt. Allerdings hat Erdogan in den vergangenen Tagen einsehen müssen, dass er mit der EU nicht umspringen kann, wie er will.
Beide Seiten brauchen einander.
Wer sitzt bei den Verhandlungen in Brüssel nun am längeren Hebel?
Die EU hat durch ihre Haltung in den vergangenen Tagen ihre Verhandlungsposition verbessern können, wogegen die Ausgangslage für Erdogan eher etwas schwieriger wurde. Doch unter dem Strich brauchen beide Seiten einander.
Wie gross sind die Chancen, dass es tatsächlich zu einer Anschlussregelung für das Flüchtlingsabkommen kommt?
Eine neue Regelung kommt sicher nicht heute Abend – dazu ist das Thema viel zu komplex. Falls es gut läuft, könnte aber zumindest ein neuer Verhandlungsprozess vereinbart werden. Die EU wird dabei darauf bestehen, dass die Türkei als Vorbedingung für Gespräche die Grenze für Flüchtlinge und Migranten wieder schliesst. Bislang schloss Erdogan das in seinen öffentlichen Stellungnahmen aus. Allerdings handelt der türkische Präsident äusserst pragmatisch und ist zuweilen auch zu Kursänderungen bereit.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.