Vier Monate nach dem Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union werden zwischen Brüssel und London wieder Seitenhiebe ausgetauscht. «Binnenmarkt», «Kanada plus» oder «Norwegen minus» – die Begriffe, die wir während der Pandemie so angenehm vergessen konnten, sind wieder da.
Doch auch nach der vierten Verhandlungsrunde sind die EU und Grossbritannien von einem Konsens über die künftigen Beziehungen weit entfernt. EU-Chefunterhändler Michel Barnier warnt einmal mehr vor einem Scheitern: «Wir haben eigentlich keine signifikanten Fortschritte gemacht.» Dabei wäre ein Konsens dringend nötig.
Freihandelsvertrag wäre vernünftig
Sowohl in Brüssel wie in London kämpft man mit den Folgeschäden der Coronavirus-Pandemie. Die Vorteile des Brexit sind in dieser Krise eigentlich nur noch schwer erkennbar. Ein Freihandelsvertrag zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wäre deshalb rational betrachtet der einzig vernünftige Weg.
Auf beiden Seiten muss die Wirtschaft wieder aufgebaut werden. Zu wissen, nach welchen Regeln das geschehen soll, wäre für alle hilfreich. Politik ist jedoch selten eine rationale Sache, der Brexit schon gar nicht.
Wenig Entgegenkommen auf beiden Seiten
Die Brexiteers auf der britischen Insel wollen um jeden Preis und ohne Abstriche endlich die Kontrolle über ihr Geld, ihre Grenzen und ihre Gesetze zurückgewinnen.
Derweil beharren einzelne Exponenten in Brüssel auf der Integrität des Binnenmarktes und den Zugang zu den britischen Fischgründen, als handle es sich dabei um heilige Gebote.
Bei so viel Beharrlichkeit auf beiden Seiten wird der Manövrierraum für Kompromisse klein. Ein Entgegenkommen wird zum Verrat an der eigenen Sache.
Für viele Britinnen und Briten ist dies die Übernahme von europäischen Regeln, die aus ihrer Sicht die angestrebte Rückeroberung der Souveränität verwässert.
Für die EU dagegen ist die Preisgabe von Regeln und Standards nicht nur eine Verzerrung des Wettbewerbs, sondern eine Preisgabe ihrer Werte.
Gehen die Gespräche in die Verlängerung?
Aus diesen Gründen ist man sich auch Ende der vierten Verhandlungsrunde nicht wirklich nähergekommen. Ob dies eine Verlängerung der Verhandlungen bedeutet, werden wir Ende Monat erfahren. Bis dahin hat London Zeit, um eine Verlängerung nachzusuchen.
Premierminister Boris Johnson hat zwar heute so klar wie unmissverständlich festgehalten, dass es eine solche Verlängerung nie geben wird. Vielleicht wird es trotzdem eine geben. Es wäre nicht das erste Mal, dass der britische Regierungschef am Ende doch noch kurzfristig seine Meinung ändert und anpasst.
Eine Mehrheit der Britinnen und Briten hat es bereits getan und wünscht sich gemäss Umfragen eine Verlängerung. Zudem weiss heute niemand, ob es im Herbst nicht zu einer zweiten Pandemie-Welle kommt, welche die Regierung in London noch mehr in Bedrängnis bringen wird.
So betrachtet sind nicht nur die bekannten Schlagworte zurückgekehrt, sondern ebenso die Unberechenbarkeit dieses Scheidungsdramas.