Die Koalitionsspitzen in Deutschland aus SPD, Grünen und FDP haben fast 20 Stunden am Stück beraten, ohne konkrete Ergebnisse präsentieren zu können. Streitpunkte, die dringend nach Lösungen rufen, sind etwa der Ausbau von ÖV, Strassen und Autobahnen, der Klimaschutz oder das Verbot von Öl- und Gasheizungen. Die Journalistin Claudia Kade der Zeitung «Die Welt» spricht von einem Tiefpunkt in der Geschichte der Ampel.
SRF News: Was sagt der Sitzungsmarathon ohne Ergebnis über den Zustand der Regierungskoalition in Deutschland aus?
Claudia Kade: Er markiert ein neues Allzeittief in den Beziehungen der Ampelkoalition. Sie trat ja mit dem Versprechen an, alles anders machen zu wollen: keine Nachtsitzungen, schlanker und schneller regieren. Das hat sich inzwischen ins Gegenteil verkehrt.
Wenn die Fähigkeiten zur Einigung so schwach sind, dann ist das ein alarmierendes Zeichen für die Regierungskoalition.
Die zu diskutierenden Themen werden seit Monaten vom Regierungsbündnis vor sich hin geschleppt, deshalb sollte jetzt eigentlich eine schnelle Einigung möglich sein. Wenn aber die Fähigkeiten zur Einigung offenbar derart schwach sind, dann ist das ein alarmierendes Zeichen für die Regierungskoalition.
Wird tatsächlich vor allem um Strassen, Klimaschutz und fossile Heizungen gestritten?
Ja – und es heisst, dass die Grünen ziemlich isoliert dagestanden sind. SPD und FDP hätten sich zusammengetan, um die Pläne von Wirtschaftsminister Robert Habeck zu schleifen. Dieser möchte etwa Gas- und Ölheizungen verbieten oder den ÖV gegenüber den Autobahnen und Strassen beschleunigt ausbauen.
Wie beurteilen Sie die Rolle von Bundeskanzler Olaf Scholz?
Er spielt eine sehr unglückliche Rolle. Es bräuchte jetzt einen Regierungschef, der auf den Tisch haut und die Dinge einmal sortiert. Scholz scheint aber eher eine Strategie wie seine Vorgängerin Angela Merkel zu verfolgen: Er versucht, politischen Profit daraus zu ziehen, dass die anderen Koalitionspartner zerstritten dastehen.
Olaf Scholz' Kalkül geht derzeit nicht auf.
So kann der Kanzler den Streit an sich abperlen lassen. Doch dieses Kalkül geht derzeit nicht auf: Es gibt weder eine Linie noch ein Ziel, wohin die Ampelkoalition steuern will. Und das wird irgendwann auch auf den Kanzler zurückfallen.
Wie kommt das Ganze bei der deutschen Bevölkerung an?
Die überbordende Beschäftigung der Ampel mit sich selbst sorgt für Frustration in der Bevölkerung. Allen ist klar, dass der Klimaschutz ein grosses und sehr umfassendes Thema ist. Ein grosser Teil der Bevölkerung ist auch bereit, da voranzuschreiten und Einschnitte hinzunehmen – aber diese Scharmützel innerhalb der Regierung will man nicht hinnehmen. Es stellt sich zudem die Frage, wie sich die Regierung in anderen Krisen verhält – es gibt ja den Krieg oder das Verhältnis mit China. Und da passiert im Moment viel zu wenig.
Die Gespräche sollen weitergeführt werden – wo sind bald Lösungen zu erwarten?
Bei der Frage nach der Beschleunigung des Infrastruktur-Ausbaus muss es heute zu einer Einigung kommen. Bei den grösseren Fragen, wie etwa der Ausgestaltung des Ölheizungsverbots, ist es schwieriger. Denn hier müssten auch Subventionen des Staates beim Heizungstausch fliessen, was Folgen für das Budget 2024 hat.
Es könnte sein, dass die FDP auf Zeit spielt und versucht, ihr Profil nach mehreren verlorenen Landtagswahlen zu schärfen.
Eigentlich müsste jetzt alles geklärt werden, damit der Voranschlag aufgestellt werden kann. Doch dies ist auf unbestimmte Zeit verschoben worden, was ungewöhnlich ist. Die Zeit drängt also. Es könnte aber auch sein, dass die FDP auf Zeit spielt und versucht, ihr Profil nach mehreren verlorenen Landtagswahlen zu schärfen. Von daher: Die Fronten sind tatsächlich sehr verhärtet.
Das Gespräch führte Raphel Günther.