Im liberalen Quartier Besiktas bei den Bosporusfähren jubelten die Menschen bis zum Sonnenaufgang. Sie tanzten, lachten und lagen sich in den Armen. Sie feierten schon den Neubeginn, den Ekrem Imamoglu in seiner Siegesrede versprach.
Begleitet wurde das Fest von Hupkonzerten auf den Strassen. Die Nacht in Istanbul verlief für hiesige Verhältnisse erstaunlich friedlich. Offensichtlich gab es diesmal Konsens, der Demokratie ihren Lauf zu lassen.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Auf dem Taksimplatz, etwas zurückversetzt, vor dem legendären Gezipark, wo Erdogan vor sechs Jahren die Protestbewegung niederschlagen liess, sind die Panzerwagen und Wasserwerfer am anderen Morgen noch da. Das haushohe Plakat, von dem Erdogans unterlegener Kandidat Binali Yildirim herunterlächelte, ist aber bereits verschwunden.
Erdogan erhält die Quittung.
Bauarbeiter hoch auf dem Gerüst hämmern an der Kuppel der gewaltigen Moschee, die der fromme Präsident hier errichten lässt. Er tut dies als Gegengewicht zur griechisch-orthodoxen Kathedrale, die zuvor alleine die Kulisse prägte. Im Schuhgeschäft Mahmut darunter ist Besitzer Halil noch immer ganz begeistert. «Ich weiss nicht, wie ich meine Freude ausdrücken soll», sagt er.
«Sie haben die Quittung gekriegt. Erdogan, die Präsidentschaft und alles. Jetzt steht die AKP vor dem Aus», fährt Halil fort. Aber hat Erdogan diese Stadt nicht gewaltig vorangebracht? Ihre Infrastruktur ausgebaut, mit Brücken, Strassen, Tunnels? «Von Brücken können sich die Menschen nicht ernähren. Jetzt in der Krise zeigt sich das. Und der Präsident erhält die Quittung», sagt er.
Vom Bürgermeister zum Präsidenten?
Istanbuls neuen Bürgermeister Imamoglu sieht er bereits als den nächsten Präsidenten des Landes. Der 49-jährige Bauunternehmer war gerade noch ein einfacher Bezirksbürgermeister in einem mittelständischen Vorort. Hat er wirklich das Zeug zum Staatsmann? Auch Erdogan habe mal als Bürgermeister angefangen, lacht der alte Schuhhändler.
Imamoğlu soll den Mund nicht so voll nehmen.
Im Kleidergeschäft ein paar Strassen weiter ist Ali, der Besitzer, weit weniger euphorisch. «Die Parteien versprechen alle das Blaue vom Himmel herunter», sagt er. «Erst die AKP, jetzt die CHP. Gerechtigkeit, Liebe, Toleranz, und was nicht alles hat auch Imamoglu letzte Nacht in Aussicht gestellt.» Der neue Stadtpräsident solle den Mund nicht so voll nehmen, meint er.
Seine Frau Marian hört eine Weile zu, mischt sich dann ein. Sie setzt grosse Hoffnungen in den neuen Bürgermeister. Eine schnelle Besserung der Lage erwartet sie dennoch nicht.
Das Land bleibt tief gespalten. Mit all den Spannungen und der wirtschaftlichen Krise, der Armut, sei wenig Aussicht auf positive Veränderungen. Jedenfalls kurzfristig. Aber die Stimmung sei seit gestern eine andere, sagt Marian.
Am Zeitungsstand haben alle Blätter die dicken Lettern auf den Frontseiten. Die regierungstreuen Medien halten sich ans Naheliegende: «Istanbuls Wahl» titelt etwa«Hürriyet» knapp. Eine Oppositionszeitung schreibt dagegen von der Ohrfeige des Volkes. Und ein kleines sozialistisches Blatt meint schon ganz frech und vollmundig an die Adresse Erdogans: «Das Ende des Wegs ist in Sicht.»
Vor dem Parteisitz von Erdogans AKP dagegen gab es am Sonntag nach der Wahl Tränen. Und die enttäuschten Aktivisten fragten sich: «Was haben wir falsch gemacht?»