In den letzten zwei Wochen hat die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein knappes Dutzend EU-Staats- und -Regierungschefs besucht. Zuletzt traf sie diejenigen von Italien, Polen und Ungarn – Staaten, die der EU kritisch gegenüberstehen. Dabei gab es stets freundliche Gesichter und nette Worte. «Ursula von der Leyen kann sehr zufrieden sein», sagt EU-Korrespondent Sebastian Ramspeck. Und: «Neues Führungspersonal ist immer Gelegenheit für einen Neuanfang.»
Vorschusslorbeeren von verschiedenen Seiten
«Von der Leyen bietet viel Projektionsfläche», erklärt Ramspeck. So gibt sie sich als Verfechterin einer starken EU, was ihrem grössten Förderer, Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, gefällt. Sie ist aber auch überzeugte Transatlantikerin, setzt sich für eine starke Nato und ein gutes Verhältnis zu den USA ein – damit punktet sie in Ländern wie Polen.
«Mit Zielen wie mehr Klimaschutz, Sozialpolitik und Frauenförderung stösst sie ausserdem bei den Linken auf Zustimmung», so der SRF-Korrespondent. Und die Tatsache, dass sie siebenfache Mutter ist, habe der ungarische Präsident Viktor Orban positiv hervorgehoben.
Osteuropäer setzen grosse Hoffnung in die Deutsche
Geht es um die Unabhängigkeit der Justiz oder den Umgang mit Flüchtlingen, werfen westliche EU-Staaten Polen und Ungarn vor, fundamentale Werte der EU zu missachten. Die osteuropäischen Staaten wiederum kritisieren, dass im Westen die christlichen Werte verloren gegangen seien und es zu wenig Verständnis für ihre Befindlichkeiten gebe.
Staaten wie Polen oder Ungarn hoffen, Ursula von der Leyen könne den Graben zwischen Ost und West «mit etwas mehr Verständnis und Rücksichtnahme zuschütten oder zumindest gewisse Brücken bauen», sagt Ramspeck.
Punkten bei der Neuen im Budget-Verteilkampf
Im Moment verhandeln die EU-Staaten zusammen mit der Kommission das Budget für die Jahre 2021-2027. Dabei geht es um mehr als eine Billion Euro: «Hinter den Kulissen tobt ein heftiger Verteilkampf», so der Brüssel-Korrespondent.
Die grössten Nettoempfänger, unter ihnen Polen und Ungarn, hätten viel zu verlieren. «Ein bisschen Charmeoffensive bei der neuen Kommissionspräsidentin kann da nicht schaden.»
Erste Niederlage schon vor Amtsantritt?
Von der Leyen hat die erste Kommission mit 50 Prozent Frauen versprochen – bei der jetzigen Zusammensetzung liegt der Frauenanteil bei rund einem Drittel. «Sie hat damit viel versprochen», so Ramspeck. Denn die Regierungen der Mitgliedstaaten dürfen ihre Vertretung empfehlen; die Kommissionspräsidentin kann lediglich Wünsche anmelden. Bisher wurden deutlich mehr Männer als Frauen vorgeschlagen.
Und ob Kommissionsbildung, Klimaschutz oder Migration – «es braucht überall viel Fingerspitzengefühl und Verhandlungsgeschick». Niederlagen seien vorprogrammiert. Von der Leyen und ihre neue Kommission sollen am 1. November ihre Arbeiten aufnehmen. «Vielleicht wird von der Leyen mit dem 50-Prozent-Frauenanteil schon ihre erste Niederlage vor Amtsantritt erleben.»