In der Ukraine gilt ab morgen Kriegsrecht. Das Parlament hat dies beschlossen, nachdem drei ukrainische Schiffe in der Strasse von Kertsch, die das Schwarze Meer mit dem Asowschen Meer verbindet, von Russland festgesetzt wurden.
Präsident Petro Poroschenko betonte, die Einführung des Kriegsrechts sei keine Kriegserklärung. Dennoch ist die Massnahme auffällig. Denn nicht einmal auf dem Höhepunkt der Krim-Krise habe die Ukraine das Kriegsrecht ausgerufen, sagt Marcel Röthig, Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew.
SRF News: Hat die Verhängung des Kriegsrechts eine Bedeutung nach aussen, im Speziellen gegenüber dem Nachbarland Russland?
Marcel Röthig: Es zeigt zunächst grundsätzlich die Entschlossenheit Kiews, zur Not bis zum Äussersten zu gehen und nicht alles hinzunehmen. Im Fall der Krim und auch im Donbass, als der Konflikt auf dem Höhepunkt war, sah das jeweils sehr zögerlich aus. Man muss sich vorstellen: Bei der Krim war allen klar, wo die grünen Männchen herkamen. Man hat damals nicht das Kriegsrecht ausgerufen, obwohl man letztlich jeden Grund dazu hatte. Den Fehler, in so einer Situation als zögerlich zu gelten, will man nicht noch einmal machen.
Der UNO-Sicherheitsrat hat sich gestern in einer Dringlichkeitssitzung demonstrativ hinter Poroschenko gestellt. Gibt ihm das Rückenwind?
Poroschenko weiss, dass die USA und die EU an seiner Seite sind. Das gibt ihm zumindest innenpolitisch für ein solches doch sehr riskantes Manöver eine gewisse Rückendeckung. Gleichwohl: Die Geduld in den europäischen Hauptstädten wird nicht allzu weit gehen, wenn es darum geht, Bürgerfreiheiten mittels Kriegsrecht einzuschränken. Bezüglich Russland ist klar: Moskau weiss, dass die USA und die EU rote Linien haben, und wenn diese überschritten werden, kann das notfalls auch zu weiteren Sanktionen führen.
Die Ukraine ist Russland militärisch nicht gewachsen. Kann es von Vorteil sein, jetzt schon einen Teil der Armee in Alarmbereitschaft zu haben?
Nicht wesentlich. Im Osten und Süden der Ukraine ist die Armee ohnehin tagtäglich im Kampfeinsatz. Das ist eine gut 470 Kilometer lange Kontaktlinie, die jetzt schon militärisch relevant ist. Die ukrainischen Streitkräfte sind heute zwar in einem deutlich besseren und erfahreneren Zustand als im Jahr 2014.
Die ukrainische Seite würde im Falle eines vollumfänglichen Krieges keine Chance gegen eine grossangelegte russische Offensive haben.
Aber die ukrainische Seite würde im Falle eines vollumfänglichen Krieges keine Chance gegen eine grossangelegte russische Offensive haben. Dessen scheint sich die Führung in Kiew bewusst, und sie dürfte von Provokationen absehen, um kein Szenario wie in Georgien 2008 zu wiederholen. Damals löste eine ebenfalls vergleichsweise kleine Provokation einen massiven russischen Militärschlag aus. Die Ukraine wird den Plan des Aufbaus eines Marinestützpunkts am Asowschen Meer aber sicherlich auch nicht so einfach aufgeben, wodurch weitere Spannungen nicht auszuschliessen sind.
Was kommt in den nächsten Tagen und Wochen auf die Ukraine zu?
Das ist noch schwer zu sagen. Eine Eskalation im Donbass ist bislang ausgeblieben. Bleibt die Hoffnung, dass in dieser Situation alle vernünftig und ruhig bleiben – möglicherweise auch durch internationale Vermittlung. Der deutsche Aussenminister Heiko Maas hatte im Verbund mit Frankreich angeboten, zu einer Deeskalation beizutragen. Ausschliessen kann man in einem solchen Fall leider nichts. Das lehrt uns die Erfahrung.
Das, was jetzt passiert ist, kann für keine der beiden Seiten ernsthaft von Interesse sein.
Aber insgesamt dürften sich beide Seiten bewusst sein, was ein Drehen der Eskalationsspirale bedeuten würde. Ich sehe auch nicht, dass das, was jetzt passiert ist, für eine der beiden Seiten ernsthaft von Interesse sein kann.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.