Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist prekär. Das gilt für die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser, aber auch bei der medizinischen Versorgung. Viele Spitäler liegen in Zonen, die schwer von Luftangriffen betroffen sind. Ärzteschaft und Pflegenden fehle mittlerweile das Nötigste, um noch behandeln zu können, sagt Christian Lindmeier, Sprecher der Weltgesundheitsorganisation WHO in Genf.
SRF News: Wie steht es um die medizinische Versorgung im Gazastreifen und wie ist die Lage für Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal?
Christian Lindmeier: Sehr schlecht. Der Landstreifen war bereits vor all den Angriffen und Gegenangriffen abgeschnitten und vollständig von Hilfslieferungen abhängig. Alles muss mit Lastwagen herantransportiert werden. Zu Patientinnen und Patienten mit den üblichen Krankheiten wie Diabetes, Krebs und Asthma kommen nun die teils Schwerstverwundeten und Amputationen. Es fehlt am Minimalsten, auch an Anästhesiemitteln für Operationen. Gleichzeitig suchen Zehntausende Zuflucht in den Spitälern.
Wie kann das medizinische Personal überhaupt noch arbeiten?
Sie arbeiten noch, zum Teil mit Taschenlampen und Licht von Mobiltelefonen. Wie lange sie das noch durchstehen, ist die grosse Frage. Auch Dutzende von Pflegenden sind umgekommen. Es ist eine untragbare Situation, in der das medizinische Personal noch zu helfen versucht.
Wie sieht die Spitallandschaft im Gazastreifen aus?
Im sehr dicht bevölkerten Gazastreifen gab es für 2.4 Millionen Menschen 35 Spitäler. Davon sind zwölf nicht mehr funktionsfähig. Von den übrigen 23 Spitälern sind die meisten an der Grenze. Es fehlt neben Treibstoff für Generatoren zum Betrieb der medizinischen Anlagen auch an Medikamenten, sterilen Räumen und Betten. Die Luftangriffe in der Umgebung verschlechtern die Lage zusätzlich.
Das Spitalpersonal steht vor der Wahl, ob es selber gehen und die Patienten ihrem Schicksal überlassen will.
Gestern kam der Aufruf Israels, das Al-Quds-Spital im Norden des Gazastreifens zu evakuieren. Was würde das bedeuten?
Das Spital müsste wochenlang planen können, um kritische Patientinnen und Patienten mit Spezialambulanzen von einem Ort zu einem anderen mit Kapazitäten zu verlagern. Doch nichts davon ist vorhanden. Das Spitalpersonal steht damit vor der Wahl, ob es selber gehen und die Patienten ihrem Schicksal überlassen will. Oder ob es riskiert, allenfalls selbst getroffen zu werden.
Es wäre nicht das erste Mal, dass die UNO und die WHO vor Ort Kontrollen durchführen würden.
Was braucht es aus Sicht der WHO, um die medizinische Versorgung im Gazastreifen zu verbessern?
Es bräuchte idealerweise eine humanitäre Pause, um über einen Korridor zu den Spitälern und Pflegeeinrichtungen zu gelangen. Ohne diese Pause bräuchte es zumindest eine fortlaufende Versorgung mit medizinischen Gütern. Dazu müssten aber Dutzende von Lastwagen pro Tag passieren können. All das liesse sich aber nur mit Sicherheitsgarantien machen, doch die gibt es nicht.
Die militante Hamas zweigt angeblich Hilfsgüter, Benzin und Medikamente für sich ab. Wie wirkt die WHO dem entgegen, mit Kontrollen?
Am kritischsten ist dies sicher beim Benzin, das sich für militärische Zwecke verwenden lässt. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass die UNO und die WHO vor Ort Kontrollen durchführen würden. Das war aber nur mit Sicherheitsgarantien oder Feuerpausen möglich.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.