Der Nahostkonflikt schwelt schon seit Jahren. Warum ist es gerade jetzt zu einer Eskalation gekommen und welche Rolle spielen die arabischen Nachbarländer? Nahost-Experte Reinhard Schulze ordnet ein.
SRF News: Der Nahostkonflikt schwelt seit Jahrzehnten – der letzte Krieg ist zwei Jahre her. Weshalb kommt es jetzt zur erneuten Eskalation?
Reinhard Schulze: Der Zeitpunkt muss lange geplant gewesen sein. Eine solche Eskalation kann nicht von heute auf morgen durchgeführt werden. Die Gemengelage, die im Moment durch den Krieg in der Ukraine entstanden ist, hat die Situation begünstigt: Krieg ist wieder an der Tagesordnung. Hinzu kommt, dass die Hamas eine Art Rückendeckung durch Russland, durch den Iran und durch die Hisbollah hat. So konnte der Angriff insgesamt gewagt werden.
Die Frage ist: Warum kann diese terroristische Organisation eine ganze palästinensische Gesellschaft in Geiselhaft nehmen?
Dazu kommt die prekäre Situation von Israel, welche die Sicherheitsorgane teilweise lahmgelegt haben. Und nicht zu vergessen das symbolische Datum: Der Samstag war einen Tag nach dem 50. Jahrestag des Beginns des Jom-Kippur-Krieges 1973. Dieser war für Israel genauso überraschend.
Die Hamas hat mit diesem Grossangriff Israel überrumpelt. Welches sind die Motive der Hamas?
Der Hamas geht es darum, in Gaza und in Palästina eine Art von politischer Meinungsführerschaft durchzusetzen und sich als die Stimme Palästinas zu organisieren. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Hamas innerhalb der palästinensischen Gesellschaft nur eine Minderheit darstellt. Die Frage ist: Warum kann diese terroristische Organisation eine ganze palästinensische Gesellschaft in Geiselhaft nehmen?
Wie ist die Situation jetzt? Ist das eine Eskalation zwischen Israel und der Hamas oder hat das Potenzial, den ganzen Nahen Osten zu treffen?
Auf den ersten Blick scheint es eine Auseinandersetzung zu sein zwischen der israelischen Armee auf der einen Seite und der Hamas und dem islamischen Dschihad auf der anderen. Die Fatah hält sich noch zurück. Einige palästinensische Splitterorganisationen, etwa die Volksfront, agieren schon auf der Westbank.
Saudi-Arabien will diesen Konflikt so weit es geht herunterkochen.
Aber: Noch ist es ein begrenzter Krieg. Wenn hingegen Israel versucht, eine Militäroperation in Gaza durchzusetzen – das hat die Hisbollah im Libanon schon angekündigt, dann wird das nicht auf den Raum Gaza begrenzt sein. Dann wäre auch Nordisrael involviert, und dann kann das noch weitere Eskalationsstufen bis hin zu Iran und Syrien zur Folge haben.
Welche Rolle spielt heute Saudi-Arabien in diesem Konflikt?
Heute will Saudi-Arabien diesen Konflikt so weit es geht herunterkochen. Saudi-Arabien will sich die Normalisierung der Beziehungen zu Israel nicht zerstören lassen und will auch die politische Führerschaft, die Hegemonie in der Region, nicht abtreten. Das Land will nicht durch einen Krieg zwischen Gaza und Israel gestört werden. Deshalb ist Saudi-Arabien stark daran interessiert, dass es so schnell wie möglich zu Verhandlungen – wie das Saudi-Arabien nennt – kommt, aber man weiss nicht, ob das tatsächlich auch so geschehen wird.
Wie sieht es aus mit dem Iran? Wird dieses Land die militärische Karte zücken?
Damit droht das Land, wenn tatsächlich eine militärische Eskalation mit Bodentruppen in Gaza stattfindet. Dann wird auch der Iran nach der ganzen propagandistischen Arbeit, welche das Land geleistet hat, vor der Frage stehen, ob es das Versprechen einlöst und die Hamas sowie den islamischen Dschihad oder die Hisbollah unterstützen wird. Dann hätten wir so eine Art Grosskonflikt, der sich auch auf den Iran ausdehnen könnte.
Das Gespräch führte Cornelia Boesch.