Israel will mit dem Krieg in Gaza die Führung der radikalislamischen Hamas vernichten. Ob das gelingt, bleibt offen. Offen ist bislang auch, wie eine tragfähige Lösung für den Gazastreifen nach dem Krieg aussehen könnte. Der Historiker René Wildnagel hat mögliche Szenarien durchgedacht.
SRF News: Gibt es schon Pläne für den Gazastreifen nach dem Krieg?
René Wildnagel: Nein. Konkrete Pläne gibt es von Seiten Israels keine. Verteidigungsminister Joaw Galant sagte bislang bloss, es solle irgendein Sicherheitsregime für den Gazastreifen geben. Für das tägliche Leben in Gaza will Israel die Verantwortung aber abgeben. Israel hat 2005 seine Truppen aus dem Landstreifen am Meer abgezogen, doch seit 2007 gibt es eine Blockade. Damit war Israel weiter Besatzungsmacht Gazas. Das will Israel beenden.
Sie haben verschiedene Szenarien für die Zeit nach dem aktuellen Krieg skizziert. Was erachten Sie als realistisch?
Die derzeitige Lage deutet leider eher auf negative Szenarien hin. Eines davon ist die Vertreibung der über zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem Gazastreifen. Dieses Szenario ist in einem geleakten israelischen Geheimdienstpapier aufgetaucht. Dort wird es sogar als das «beste» Szenario für Israel beschrieben.
Mit einer Vertreibung hätte man ein neues palästinensisches Flüchtlingsproblem – aber sicher keine Friedensperspektive.
Die Menschen würden demnach in den Sinai nach Ägypten «evakuiert». Damit hätte man allerdings ein neues palästinensisches Flüchtlingsproblem wie 1948 und 1967 – aber sicher keine Friedensperspektive. Dieses Szenario würde eben gerade keine Sicherheit für Israel schaffen.
Wäre das nicht auch ein Bruch des Völkerrechts?
Ja. Wenn die Menschen ihre Heimat verlieren und nicht zurückkehren dürften, wäre das für sie eine Katastrophe. Ein Leben in Zeltstädten im Sinai wäre wohl nur unter menschenunwürdigen Bedingungen möglich, die Menschen müssten dort versorgt werden.
Gaza ist Teil einer Zweistaaten-Friedenslösung.
Es würde auch all das zusammenbrechen, worauf man nach der sich im Gang befindlichen Katastrophe hofft: eine neue Perspektive für eine Zweistaatenlösung und Friedensverhandlungen. Denn Gaza ist Teil einer solchen Perspektive – der Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem sollten ja einen palästinensischen Staat bilden.
Würde Israel mit dem Vertreibungsszenario nicht auch die internationale Unterstützung seiner Partner verlieren?
Derzeit laufen im Hintergrund wohl Bemühungen, diese Option gegenüber der EU und den USA zu vertreten. Schliesslich ist es verständlich, dass Israel mit allen Mitteln einen Terrorüberfall wie am 7. Oktober in Zukunft verhindern will. Doch die Europäer und die USA sollten Israel bei einer Lösung unterstützen, in der man eine Perspektive für den Gazastreifen schafft – und in der dieser wieder geöffnet wird.
Die EU und USA könnten während einer Übergangszeit die Verwaltung Gazas übernehmen.
Die EU und die USA könnten dabei für die Sicherheit sorgen und beispielsweise während einer Übergangszeit die Verwaltung übernehmen, später könnte diese womöglich die Palästinenserbehörde übernehmen, die jetzt in Teilen des Westjordanlands regiert. Die grosse Frage ist, ob ein solches, positives Szenario im Interesse der aktuellen israelischen Regierung ist.
Welche konkreten Schritte könnten die EU und die USA für eine Friedenslösung unternehmen?
Man könnte beispielsweise die Grenzen des Gazastreifens schützen und dafür sorgen, dass keine Waffen in das Gebiet gelangen. Gleichzeitig müsste Gaza wieder verbunden werden mit der Welt und etwa die Fischerei wiederbelebt werden. Doch damit ein solcher Wiederaufbau gelingen kann, müssten zuerst die politischen Voraussetzungen stimmen.
Das Gespräch führte Christine Scheidegger.