Es war ein kalter Tag Ende Januar, als Kaja Kallas feierlich ihren Amtseid ablegte. Die 43-jährige Juristin und Chefin der liberalen Reformpartei schrieb Geschichte: Als erste Frau an der Spitze der Regierung des kleinen baltischen Landes. Und das mit einem Kabinett, das fast zur Hälfte weiblich besetzt ist. Auch das Staatspräsidium hat mit Kersti Kaljulaid eine Frau. An der Spitze des Staates haben nun die Frauen das Sagen.
Marktliberales Programm
Kallas ist überzeugte Europäerin. Sie war Abgeordnete im Europäischen Parlament. Sie hat ein marktliberales Programm, setzt also auf die Rezepte, die Estland zum Vorzeigeland unter den ex-sowjetischen Staaten gemacht haben.
Bei vielen ist die Erleichterung gross, denn in den letzten zwei Jahren hatten in Tallinn Rechtspopulisten mitregiert, die mit Beschimpfungen für Aufsehen sorgten, Reizthemen wie Migration und Ehe für Homosexuelle politisch bewirtschafteten und gegen die EU wetterten.
Volkspartei EKRE mit einschlägigen Vorbildern
Das liberale Estland sei zurück, meint deshalb die Tallinner Politologin Kristi Raik, Expertin für Aussen- und Sicherheitspolitik, und das sehr grundsätzlich: Die Rechtspopulisten in der Vorgängerregierung hätten versucht, Kernprinzipien der liberalen Demokratie zu untergraben, wie freie Medien, Unabhängigkeit der Justiz, Minderheitenrechte und das Wahlsystem.
Diese Partei, die Konservative Volkspartei EKRE, bezeichnet sich offen als liberal, hat Viktor Orbans Ungarn als Vorbild und Donald Trump. Ihre Einbindung in die Regierungskoalition habe die Partei entgegen der Erwartungen vieler nicht gemässigt, so Raik, im Gegenteil: «Die Rechtspopulisten haben die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben, gegen die Eliten gewettert und Beschimpfungen ausgeteilt. Das hat die Polarisierung nur noch verschärft.»
Stilwechsel erwartet
Nun sind die Liberalen zurück. Der Politbetrieb hat sich sozusagen normalisiert. Was kann Kaja Kallas tun, um die Gräben zuzuschütten? Raik sagt: «Sie kann zu einer ruhigen und rationalen Art des Politisierens zurückkommen, und echte Probleme anpacken.»
Prioritär will sich die neue Regierungschefin um die Corona-Pandemie kümmern, die Wettbewerbsfähigkeit des Landes stärken, den Klimawandel bekämpfen und die Digitalisierung vorantreiben. Mit dieser Politik habe Kallas die Unterstützung von weiten Teilen der estnischen Bevölkerung, so Raik.
Zentrumspartei mit wichtiger Rolle
Allerdings gehe das Programm nicht auf jene Probleme ein, die die Ursache für den Aufstieg der Rechtspopulisten seien. EKRE findet vor allem im ländlichen Milieu Anklang, bei den Menschen, die sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen und denen die Veränderungen im Land zu schnell gehen.
Die Politologin denkt, dass die linksliberale Zentrumspartei, die ebenfalls in der Regierung sitzt, hier politische Akzente setzen könnte – mit Massnahmen, die den sozialen Zusammenhalt im Land stärken.
Die neue Regierung hatte einen vielversprechenden Start, aber es wird hart.
Kallas hat eine schwierige Aufgabe vor sich. Sie gilt zwar als integrativ, hat aber keine Regierungserfahrung. Und sie ist die Tochter des ehemaligen estnischen Ministerpräsidenten und EU-Kommissars Siim Kallas – einer der Schlüsselfiguren der estnischen Politik. Allen, die gegen die Elite wettern, bietet sie ein leichtes Ziel. Politologin Raik meint deshalb: «Die neue Regierung hatte einen vielversprechenden Start, aber es wird hart.»