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Flüchtlingselend im Mittelmeer
Aus Rendez-vous vom 18.04.2017. Bild: Reuters
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Trotz Flüchtlingsansturm «EU-Seeretter machten offenbar Osterpause»

Ausgerechnet am sonnigen Osterwochenende fehlten im Mittelmeer die Rettungsboote der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex, sagt Beat Schuler vom UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR.

SRF News: Am Wochenende waren plötzlich sogar die Boote von Hilfsorganisationen überladen und manövrierunfähig. Wie konnte das passieren?

Beat Schuler: Über das Osterwochenende sind bis zu 8500 Personen losgefahren. Bis und mit Sonntag kam es zu 65 Seerettungszwischenfällen. Das ist ausserordentlich viel. Die koordinierende Seerettungsnotzentrale hat alle Mittel eingesetzt, die in der Gegend waren. Doch weil die europäische Grenzschutzwache Frontex kaum aktiv war, mussten die Schiffe der privaten Hilfsorganisationen Extraschichten leisten. Vor allem ein kleineres deutsches Boot geriet dabei in Schwierigkeiten – es hatte zu viele Menschen aufgeladen.

Vielleicht planten die Verantwortlichen schlecht, vielleicht machten zu viele Leute Ferien.

Wie wichtig sind die privaten Hilfsorganisationen für die Seerettung im Mittelmeer?

Sehr wichtig. Gerade dieses Wochenende musste man feststellen, dass Frontex offenbar eine Osterpause gemacht hat. Weshalb ist noch unklar. Vielleicht planten die Verantwortlichen schlecht, vielleicht machten zu viele Leute Ferien. Jedenfalls gab es ein Loch. Deshalb ist es wichtig, dass genügend Schiffe von Hilfsorganisationen wie «Ärzte ohne Grenzen» draussen sind. Übers Osterwochenende mussten auch noch zwölf private Handelsschiffe für Rettungsoperationen hinzugezogen werden.

Beat Schuler

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Der Schweizer arbeitet für das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Rom.

Die Hilfsorganisation «Ärzte ohne Grenzen» schrieb auf Twitter: «Wo ist Frontex? Wie viele Leben hätten gerettet werden können, wenn die EU eine proaktive Such- und Rettungsoperation betreiben würde?» Was läuft falsch?

Die EU muss klar Stellung nehmen, denn Frontex ist ja eine europäische Behörde. Sie muss zu einer proaktiven Seerettung angewiesen werden. Im Allgemeinen hat Frontex als Grenzschutzbehörde eher Mühe, solche Operationen durchzuführen. Denn der gegebene humanitäre Imperativ durchlöchert die Grenze natürlich. Doch die aktuelle Lage gebietet: Zuerst Leben retten und erst in zweiter Linie Grenzen schützen.

Frontex nimmt Stellung

Die europäische Grenzschutzbehörde Frontex bestreitet die Vorwürfe von Beat Schuler. In einer Stellungnahme lässt sie verlauten, dass bei den jüngsten Rettungsoperationen alle Schiffe eingesetzt worden seien. Insgesamt setze Frontex im Rahmen der europäische Rettungsmission Operation Triton aktuell elf Schiffe, drei Flugzeuge und zwei Helikopter ein. Über das Osterwochenende wurden im Mittelmeer laut der Internationalen Organisation für Migration 8'360 Flüchtlinge gerettet. Frontex rettete nach eigenen Angaben mehr als 1'500 davon. Die restlichen knapp 7'000 mussten von privaten Hilfsorganisationen und Handelsschiffen gerettet werden, welche die italienische Seerettungsnotzentrale bei Bedarf hinzuzieht.

Frontex-Chef Fabrice Leggeri warf den Hilfsorganisationen kürzlich vor, das Geschäft der Schlepper zu befördern, indem sie nah bei der libyschen Küste agieren würden. Stimmen Sie dem zu?

Auch Frontex untersteht dem internationalen Seerecht.

Das ist eine klare Diskreditierung dieser wichtigen Arbeit. Abfahrten finden statt, das ist eine Tatsache. Die Flüchtlinge begeben sich zwar oft freiwillig in die Hände der Schlepper. Aber man kann sie doch nicht einfach mit dem Argument ertrinken lassen, dass ihre Rettung die Schlepper unterstützen würde. Auch Frontex untersteht dem internationalen Seerecht: Beistand für Schiffe in Seenot ist eine Pflicht.

Die EU hat dem Schlepperwesen vor zwei Jahren den Kampf angekündigt und dafür die sogenannte «Operation Sophia» ins Leben gerufen. Wo liegen die Probleme?

Die EU darf das Schlepperwesen auf hoher See bekämpfen, aber nicht etwa in libysche Gewässer hineinfahren. In Libyen beteiligen sich viele Leute an diesem Menschenschmuggel, das geht hoch bis in die Regierungsstellen. Zwar wird auf jedem Boot in internationalem Gewässer hingeschaut, wer die Überfahrt verantwortet. Das sind dann aber meistens nur kleine Handlanger und nicht die grossen Fische. Weil es den Staat Libyen so nicht mehr gibt, ist eine offizielle Zusammenarbeit auch kaum möglich.

Die Zerstörung von Holzbooten führt zu mehr Schlauchbooten.

Haben die Schlepper ihre Strategien im Lauf der Zeit geändert und an die Hilfseinsätze angepasst?

Heute sind weniger Holzboote unterwegs, denn die europäischen Einsatzkräfte zerstören diese systematisch. Dafür gibt es jetzt mehr Schlauchboote. Diese sind nach chinesischer Art zusammengeleimt und gleich seeuntauglich wie früher. Die Schlepper gehen heute aber skrupelloser vor und laden immer mehr Menschen auf diese Boote. Teilweise werden Flüchtlinge, die angesichts der Überladung den Zustieg verweigern, gar mit Waffengewalt auf die Schlauchboote gezwungen. Dieses Jahr sind bereits wieder 820 Menschen im Mittelmeer ertrunken.

Im Vergleich zum Vorjahr wagten sich bislang fast 50 Prozent mehr Flüchtlinge über die Mittelmeerroute von Libyen nach Italien. Wie ist ihr Ausblick für den Sommer?

Das ist zunächst sehr abhängig von den Wetterbedingungen. So hat das ausserordentlich gute Wetter am Osterwochenende viele zur Abfahrt bewegt. Es ist jedoch sehr schwierig, die Entwicklung vorherzusagen – da spielen viele Faktoren mit. Wir sind uns aber sicher: Es wird einen sehr intensiven Sommer geben.

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