Zum Inhalt springen

«Europa schafft sich ab» Provokatives Plädoyer für eine Wende in der Flüchtlingspolitik

Der EU-Parlamentarier Erik Marquardt ist ein Kenner von Europas Asylpolitik – und fordert einen radikalen Neustart.

Erik Marquardt hat als Fotoreporter entlang vieler Flüchtlingsrouten den Alltag von Migranten dokumentiert. Er war in Afghanistan, in Syrien, in der Türkei, in Griechenland, in den Ländern auf dem Westbalkan und auf hoher See, unterwegs mit Seenot-Rettungsschiffen vor der libyschen Küste.

In seinem zweiten Berufsleben, im EU-Parlament, ärgert er sich über Debatten zur europäischen Migrationspolitik, die wenig mit der Realität zu tun hätten. Diese Widersprüche beschreibt er in einem Buch, mit einem bewusst provokativen Titel: «Europa schafft sich ab» – an den Aussengrenzen der EU.

«Wenn wir merken, dass Grundwerte an einigen Stellen überhaupt keine Relevanz mehr haben – EU-Recht und grundlegende Menschenrechte einfach gebrochen werden – ist das, wofür Europa stehen sollte, nicht mehr vorhanden», sagt Marquardt. «Und damit könnte sich Europa abschaffen.»

Der «Europatrick»

Für Marquardt ist es offensichtlich, dass an den EU-Aussengrenzen Flüchtlinge illegal zurückgedrängt werden; dass Migranten in der EU teilweise keine fairen Asylverfahren zugestanden werden. Das habe System, weil in Migrationsfragen EU-Behörden wie Frontex oder die nationalen Grenzschutzbehörden jeweils aus der Not agieren würden. Ohne klare Vorgaben der Politik. «In Europa bekommt man Flucht, Nöte und besorgniserregende Entwicklungen anderswo auf der Welt immer erst mit, wenn es fast schon zu spät ist.»

Die Folge ist ein hoher öffentlicher Druck auf die Politik, zu handeln. Daraus sei der «Europatrick» entstanden, den alle Länder gerne nutzen, als Entschuldigung fürs Nichtstun: «EU- oder auch Schengenstaaten zeigen gerne aufeinander und sagen, dass sich der jeweils andere Staat zuerst bewegen soll und man es nicht alleine tun könne. Man müsse eine gemeinsame Lösung in Europa finden. Dann setzt man sich zusammen und stellt fest, dass man keine gemeinsame Lösung findet.» In dieser Situation sei es jeweils am einfachsten, das Versagen Brüssel anzulasten. «Doch es sind die Nationalstaaten, die es nicht hinbekommen.»

Eine Migrationspolitik von unten

Die europäische Asyl- und Migrationspolitik ist seit Jahren blockiert. Auch der jüngste Vorschlag der EU-Kommission für einen umfassenden Migrationspakt mit einem verbindlichen Verteilschlüssel zur Aufnahme von Flüchtlingen und einheitlichen Asylverfahren findet im EU-Rat der Mitgliedsstaaten keine Mehrheit.

Darum schlägt der Grüne EU-Politiker aus Deutschland vor, das System auf den Kopf zu stellen. Marquardt plädiert für eine Migrationspolitik von unten: für ein finanzielles Anreizsystem der EU, das jene belohnt, die bereit sind, Asylsuchende aufzunehmen.

Das könne die politische Blockade lösen, ist Marquardt überzeugt. Weil Europa nicht handle, entstehe ein doppelter Schaden: «Das Schlimmste, was momentan passiert, sind Menschenrechtsverletzungen. Das Zweitschlimmste ist, wenn wir den Eindruck erwecken, wir könnten mit eigentlich gut lösbaren Problemen überhaupt nicht umgehen.» Einen solchen Eindruck dürfe man in Demokratien nicht erzeugen. «Dann kommen irgendwann Leute auf die Idee, dass Demokratie vielleicht doch nicht die beste Lösung ist. Das sieht man auch an Wahlergebnissen von Rechtsaussen-Parteien.»

Trotzdem: In der Asyl- und Migrationspolitik bewegt sich nichts. In regelmässigen Abständen präsentiert die EU neue Aktionspläne. Das EU-Parlament schlägt Gesetzesanpassungen vor. Im Rat der 27 Mitgliedsstaaten werden Entscheidungen verschoben, von Sitzung zu Sitzung.

Rendez-vous, 07.10.2021, 12:30 Uhr

Meistgelesene Artikel