Die Zeiten wenden sich – auch in Brüssel. Die EU-Kommission will aufrüsten – zumindest im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Bis 2030 sollen die EU-Staaten 40 Prozent der Rüstungsgüter gemeinsam beschaffen – auch dank finanzieller Anreize aus dem EU-Budget. Die Hälfte der für die Beschaffung von Rüstungsgütern eingeplanten Mittel sollen zudem auf dem europäischen Rüstungsmarkt ausgegeben werden. Es wäre ein Paradigmenwechsel in der europäischen Rüstungspolitik. Denn in Verteidigungsfragen haben die EU-Staaten in den letzten Jahrzehnten vor allem für sich geschaut.
Der russische Angriff auf die Ukraine, die stockenden Munitionslieferungen nach Kiew und ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat, der laut darüber nachdenkt, europäische Nato-Verbündeten im Falle eines russischen Angriffs nicht zu unterstützen hat die rüstungspolitischen Sinne in der EU-Kommission, die zuvor kaum ausgeprägt waren, merklich geschärft.
Ein Projekt für Jahrzehnte
Ob die EU-Staaten die Vorschläge der Kommission gutheissen und sich hinter einer europäische(re) Rüstungspolitik stellen, ist offen. Doch auch wenn: Die Harmonisierung der europäischen Kakophonie in der Rüstungsbeschaffung ist ein Projekt für Jahrzehnte. Kurzfristig ist die Herausforderung eine andere. Die EU droht daran zu scheitern, der Ukraine die für den Abwehrkampf nötige Unterstützung zukommen zu lassen.
Hier geben die EU-Staaten zurzeit ein lamentables Bild ab. Vor allem die Regierungen der beiden grössten EU-Staaten. Deutschland und Frankreich streiten öffentlich lautstark darüber, wer die Ukraine stärker unterstützt. Und zur Taurus-Diskussion ist jetzt auch noch die Taurus-Abhöraffäre hinzugekommen.
Kleine Schritte ebenfalls wichtig
Seit Monaten versuchen die EU-Staaten zudem, die Mittel der sogenannten «Europäischen Friedensfazilität» um fünf Milliarden aufzustocken. Aus diesem Fonds will die EU den Mitgliedstaaten einen Teil der Kosten für Waffenlieferungen an die Ukraine erstatten. Eine Einigung gibt es bisher nicht. Einer der Streitpunkte ist die Frage, ob aus dem Fonds auch Waffen- und Munitionskäufe, die ausserhalb Europas getätigt wurden, zurückerstattet werden können. Das lässt erahnen, dass auch die Diskussion über eine stärkere europäische Rüstungsindustrie unter den Mitgliedstaaten nicht einfach wird.
Das Problem der verzettelten europäischen Rüstungsausgaben ist nicht neu, es ist der EU-Kommission zugutezuhalten, dass die es zu lösen versucht. Es wäre ein grosser Sprung. Doch der Plan wird nicht viel wert sein, wenn Europa nicht auch bei den kleinen Schritten auf Kurs bleibt: bei der kurzfristigen Unterstützung für die Ukraine. Hier nützen langfristige Strategien der EU-Kommission nicht viel. Hier braucht es politischen Gestaltungswillen in den europäischen Hauptstädten – zum Beispiel in Berlin und Paris.