Ein ähnliches Bild zeigen die Werte zur Wirtschaftskraft (BIP) und den jährlichen Rüstungsausgaben der drei Akteure. Europa braucht sich nicht zu verstecken, weder vor den USA und erst recht nicht vor Russland. Auch bei der Unterstützung der Ukraine liegt Europa auf Augenhöhe oder sogar deutlich vor den USA, wenn die finanzielle und humanitäre Unterstützung einberechnet wird.
Selbst bei der Armeegrösse – zum Beispiel bei der Truppenstärke oder der Anzahl Kampfpanzer und Kampfjets – liegt Europa zumindest zahlenmässig gleichauf mit den USA und Russland. Die grosse Ausnahme ist historisch bedingt das Atomarsenal.
Nun sind Geld, Wirtschaftsmacht und die Anzahl Waffen alleine ein schlechter Indikator für Kampfkraft und faktische Einsatzfähigkeit, sonst wäre Europa eine militärische Supermacht.
Die Gründe, weshalb es das nicht ist, sind vielfältig und sowohl militärischer als auch politischer und wirtschaftlicher Natur.
1. Militärische Schwächen
Europa ist punkto Rüstungsausgaben kein Zwerg. Die Mitgliedsländer der EU und Grossbritannien gaben 2023 rund 350 Milliarden Euro für ihre Verteidigung aus. Seit der russischen Annexion der Krim sind es von Jahr zu Jahr mehr. Im Jahr 2024 dürfte der Wert bereits über 400 Milliarden liegen. Damit investiert Europa zwar immer noch deutlich weniger in die militärische Sicherheit als die USA, die dafür mehr als 900 Milliarden ausgeben. Aber erheblich mehr als Russland, dessen Militäretat bei rund 100 Milliarden liegt.
Das Problem Europas ist also nicht in erster Linie zu wenig Geld, vielmehr dass aus diesem Geld zu wenig Schlagkraft herausgeholt wird. Es mangelt an kurzfristig mobilisierbaren Soldaten, weshalb nun die Wiedereinführung der Wehrpflicht mancherorts zum Thema wird. Es mangelt an der Einsatzfähigkeit von Waffen. Es mangelt an Waffen- und Munitionsnachschub. Die Kapazitäten der europäischen Rüstungsindustrie sind zu gering. Trotz des Krieges wurden sie bisher nur in begrenztem Mass ausgebaut. Und obschon eine engere Rüstungskooperation ein Dauerthema ist, funktionieren die Waffenentwicklung und -produktion weitgehend national, abgesehen von ein paar Prestige-Kooperationsprojekten, die nur zäh vorankommen. Europa hat noch immer viel zu viele unterschiedliche Panzertypen, Artilleriesysteme oder Kampfflugzeuge.
Bei den Kommandostrukturen ist die europäische Verteidigung ganz auf die Nato ausgerichtet. Dort spielen die Amerikaner die Schlüsselrolle. Sollte man sich künftig nicht mehr auf sie verlassen können, bräuchte es neue Koordinations- und Kommandostrukturen. Andocken könnte man sie an die EU. Doch dann wären wichtige Partner wie Grossbritannien oder Norwegen nicht dabei. Etwas gänzlich Neues zu schaffen, wäre teuer und entstünde nicht über Nacht.
2. Politische Schwächen
Europa ist wirtschaftlich und als humanitärer Akteur ein Schwergewicht. Aussen- und sicherheitspolitisch ist es das nicht – und wird daher von Grossmächten wie China und Russland überhaupt nicht ernst genommen. Das Einstimmigkeitsprinzip in der EU in Schlüsselfragen verunmöglicht häufig Geschlossenheit. Gerade gegenüber Moskau ist Europa gespalten. Klar positioniert sind die skandinavischen Länder, das Baltikum und Polen sowie das EU-Nichtmehrmitglied Grossbritannien. Etwas wankelmütiger wirken Deutschland, Italien und Frankreich. Für Spanien ist Russland weit weg, für die Türkei ist es ein Partner. Und Ungarn oder die Slowakei sind gar Putins trojanische Pferde in Europa.
In manchen Ländern sind Parteien stark oder erstarken, die gegenüber der EU und der Nato skeptisch sind und dafür mit der Kremlführung sympathisieren. Sie widersetzen sich höheren Rüstungsausgaben, einer dezidierten Haltung gegenüber Moskau und dem Aufbau eines «Europas der militärischen Sicherheit». Absehbar ist in den meisten europäischen Ländern massiver Widerstand, sobald die Frage aufkommt, ob Europa einen eigenen, von den USA unabhängigen nuklearen Schutzschirm, also europäische Atombomben, braucht.
Vielerorts ist im Zusammenhang mit europäischen Soldaten zum Schutz der Ukraine von «Friedenssoldaten» die Rede. Das erweckt den falschen Eindruck eines harmlosen Einsatzes. Tatsächlich gefordert wären bestens ausgebildete, gut ausgerüstete und einsatzfähige Kampftruppen, um potenzielle neue russische Angriffe auf die Ukraine abzuwehren. Solche zu entsenden, ist unpopulär, deshalb spricht man ungern davon.
3. Wirtschaftliche Schwächen
Russland bringt wirtschaftlich weniger Gewicht auf die Waage als Italien. Doch die russische Wirtschaft ist zunehmend zentral gesteuert und wurde rasch zu einer Kriegswirtschaft umgebaut. Weite Teile der Bevölkerung scheinen bereit, Wohlstandsverluste hinzunehmen, wenn es der russischen «Grandeur» dient. In Europa fehlt diese Bereitschaft. Bereits als man sich energiepolitisch von Russland abnabeln musste, was einen wirtschaftlichen Preis hatte, gab es starke Widerstände. Die Leidensbereitschaft ist gering. Die wenigsten Europäer sind bereit, den Gürtel deutlich enger zu schnallen, um der Ukraine noch stärker zu helfen oder eine hypothetische russische Gefahr für sie selber abzuwehren.
Die europäische Wirtschaft funktioniert privatwirtschaftlich. Die Rüstungsindustrie fährt wieder satte Gewinne ein. Doch Investitionen in neue Werke werden nur getroffen, wenn es sich langfristig lohnt. Keine Regierung gibt indes einem Waffenhersteller zwanzig-, dreissig-, vierzigjährige Abnahmegarantien. Europas Wirtschaftskraft lässt sich also nicht eins zu eins umsetzen in militärische Potenz.