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Geopolitische Zeitenwende Europa allein zu Hause

Bei markigen Begriffen ist Vorsicht geboten. Dennoch trifft es die Sache nicht schlecht, wenn nun von einer geopolitischen Zeitenwende die Rede ist oder von einer tektonischen Verschiebung. Immerhin geht es um eine fundamentale Erschütterung der transatlantischen Partnerschaft. Auf einmal ist fraglich, wie solide zentrale Pfeiler dieser Partnerschaft noch dastehen, allen voran die Nato, aber auch die G7-Gruppe. Wird auf deren bevorstehenden Gipfeltreffen bloss noch die Selbstzerfleischung des Westens zelebriert? Die US-Denkfabrik Carnegie spricht vom «Tod jener Weltordnung, die die USA selber geschaffen haben.»

Offenkundig ist jedenfalls, dass sich Europa stärker in die Lage versetzen muss, selber, auch ohne die USA, für seine Sicherheit zu sorgen. Die Forderung ist alt, erfüllt ist sie noch lange nicht. Europa gibt zwar sehr viel Geld aus, mehr als 500 Milliarden Euro pro Jahr für seine Verteidigung, ein Mehrfaches dessen, was Russland ausgibt. Aber es erzielt damit zu wenig militärische Schlagkraft.

Optimismus als Leitprinzip

Bisher war, wenn es um die Sicherheit ging, Optimismus das Leitprinzip. Optimismus ist hier halt bequemer. Man muss dann nicht handeln. Allerdings bekamen letzthin eher die Pessimisten recht: die russische Annexion der Krim, die russische Drohung mit der Rohstoffwaffe, der russische Überfall auf die Ukraine und nun die amerikanische Abkehr von der Unterstützung der Ukraine. Alles kam unerwartet, aber alles kam. Das spricht für eine skeptische oder zumindest realistische Lagebeurteilung.

Das erfordert unangenehme politische Debatten. Zwar haben die Amerikaner zumindest bisher noch nicht angedroht, Europa auch den nuklearen Schutzschirm zu entziehen. Aber wer garantiert, dass nicht auch das mit einem Federstrich, einem Tweet passiert? Wie würde sich Europa gegen ein atomar hochgerüstetes Russland behaupten? Die britischen und französischen Atomwaffen reichen nicht. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat angeboten, die «Force de Frappe» zu «europäisieren». Doch dazu müsste sie massiv ausgebaut werden, was zig Milliarden kostete. Und wer entschiede, wer besässe den Atomknopf? Frankreichs Präsident? Die EU-Führung? All das ist ungeklärt.

Grosse Diskussionen stehen an

Auch die Wehrpflichtdiskussion wird wieder aktuell. Der wohl künftige deutsche Kanzler Friedrich Merz erwägt deren Wiedereinführung. In anderen Ländern wird das ebenfalls diskutiert. Auch diese Debatte wird heftig. Ebenso jene über die Erhöhung der Verteidigungsetats.

Die Europäer fragen sich: Was kommt da noch? Und: Ist das nicht völlig irrational? Vertritt Donald Trump wirklich, wiewohl egoistisch, die US-Interessen? Die USA wurden nicht nur aus eigener Kraft zur dominierenden Supermacht, vielmehr auch dank ihrer klugen Allianzpolitik in Europa und anderswo.

Zerschlägt Trump nun solche Partnerschaften, dient das kaum den Interessen der USA. Weshalb bei manchen der Eindruck entsteht, es gehe im Weissen Haus derzeit nicht um nüchternes Kalkül, vielmehr um eine starke Abneigung des neuen US-Präsidenten gegenüber den Europäern. Denn statt sich als brave Knechte Trumps zu verstehen, mucken sie gelegentlich auf.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

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Rendez-vous, 25.2.2025, 12:30 Uhr

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