Er kenne viele, die gegangen sind. Cousins, Freunde: Einige seien zurückgekehrt, andere immer noch da, erzählt der Pizzaiolo eines Restaurants im überschaubaren Zentrum der Kleinstadt Kukes.
Die Menschen, von denen er spricht, haben sich nach Grossbritannien abgesetzt. Vor etwa anderthalb Jahren machten sich viele, vor allem junge Männer, von Kukes aus auf den Weg dorthin.
Die Rolle von Social Media
Verlangten Schlepperbanden früher noch Zehntausende Euro für die Reise von Albanien nach Grossbritannien, so kostete sie nach der Coronapandemie nur noch wenige tausend Euro. Dieser plötzliche Einbruch der Kosten hat einen regelrechten Hype ausgelöst.
Die Menschenschmuggler bewarben ihre Angebote auf der Videoplattform Tiktok. Zeitweise stammten die meisten illegalen Migranten in Grossbritannien aus Albanien.
Social Media spiele eine wichtige Rolle, bestätigt auch der junge Pizzabäcker: «Dort sieht jeder reich aus». Schicke Restaurants, schnelle Autos: Nach der Ankunft in Grossbritannien leben viele offenbar in Reichtum.
Doch das entspreche oft nicht der Wahrheit. Verschuldet durch die Überfahrt, landeten viele nach der Ankunft in den Händen krimineller Banden. So erging es auch zwei seiner Cousins: Einer sei jetzt im Gefängnis, der andere musste auf einer Hanfplantage arbeiten, habe nun aber einen legalen Job gefunden.
Verständnis für diejenigen, die gehen
Mittlerweile ist der Hype etwas abgeflaut. Doch viele junge Menschen wollen immer noch weg. «Für die Jungen gibt es nichts zu tun hier. Man kann Billard oder Playstation spielen, in Cafés herumhängen. Die Löhne sind sehr tief und reichen kaum für eine Einzelperson, geschweige denn für eine Familie».
Dem Bäcker selbst sei die Reise nach Grossbritannien auch schon angeboten worden, doch er habe sich entschieden, zu bleiben.
Jahrzehntelange Abwanderung
Die Kleinstadt Kukes bildet das Zentrum einer ländlichen Region im Nordosten Albaniens. Es ist eine arme Gegend. Die umliegenden Dörfer wirken teilweise ausgestorben. Läden, Restaurants oder sonstige Treffpunkte gibt es nur wenige.
Viele Häuser stehen leer oder verfallen. Es sind die Spuren einer jahrzehntelangen Migrationsgeschichte, die weit über die Region Kukes hinausreicht.
Die Massenauswanderung begann 1991 nach dem Ende des Kommunismus. Davor war Albanien jahrzehntelang eines der isoliertesten Länder der Welt. Die Grenzen waren in alle Richtung geschlossen. Als sie sich nach der Diktatur endlich öffneten, konnten es viele kaum erwarten. Innerhalb der ersten Monate migrierten Zehntausende Hals über Kopf in die Nachbarländer Italien und Griechenland.
Diese Migration hat nie aufgehört. Albanien hat eine der höchsten Auswanderungsquoten der Welt. In den letzten 30 Jahren haben über eine Million Menschen das Land verlassen, und das bei einer Bevölkerung von nur gerade knapp drei Millionen. Geändert haben sich nur die Zielländer: Mittlerweile zieht es die meisten nach Westeuropa.
Neu ist auch, dass mittlerweile viele gut ausgebildete Menschen gehen. Jene Gruppe der Gesellschaft also, die eigentlich gute Aussichten haben sollte. Doch 40 Prozent aller, die Albanien in den letzten zehn Jahren verliessen, haben einen Universitätsabschluss.
Gesundheitssektor besonders betroffen
Was das heisst, spürt Skhelzen Ibra jeden Tag. Der 55-Jährige arbeitet als Arzt in einem Regionalspital, das eine knappe Stunde ausserhalb von Kukes liegt. Einige der Mediziner, die hier arbeiten, wären eigentlich schon lange in Pension, erzählt er. Doch sie machten weiter, weil der Nachwuchs fehle. Auch Pflegerinnen fänden sie kaum noch, zu gross sei die Verlockung, auszuwandern.
«Spezialisten kriegen in Albanien weniger als 1000 Euro im Monat. Und das nach einer jahrelangen Ausbildung. Wen wundert es, dass viele lieber nach Deutschland gehen.» Er habe Angst davor, wie es weitergeht, wenn er und die anderen verbleibenden Ärzte zu alt seien, um weiterzumachen.
In kaum einem anderen Land Europas ist die Dichte an Ärztinnen und Ärzten so tief wie in Albanien. Viele zieht es nach dem Studium gleich weiter, die meisten nach Deutschland. Wie in der Schweiz herrscht dort ein Mangel an Ärztinnen und Pflegepersonal. Die Arbeitskräfte aus Albanien sind daher sehr willkommen. Einige Kliniken in Deutschland übernehmen sogar die Ausbildungskosten.
Um diese Abwanderung zu stoppen, hat die Regierung ein Gesetz vorgelegt, das junge Ärzte und Ärztinnen verpflichtet, nach dem Studium mindestens fünf Jahre in Albanien zu arbeiten. Dagegen haben Medizinstudierende monatelang protestiert. Wegen eines Urteils des obersten Gerichts ist das Gesetz vorerst ausgesetzt.
Glauben an eine bessere Zukunft verloren
Der Migrationsforscher Ilir Gedeshi glaubt nicht an solche Massnahmen. Vielmehr müsste der Staat das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen. «Die Menschen gehen nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch, weil sie die Hoffnung auf Besserung verloren haben.»
Die EU-Integration kommt kaum voran. Korruption ist im Land weit verbreitet, die organisierte Kriminalität ist stark. Premierminister Edi Rama und seine Sozialisten sind seit zehn Jahren an der Macht und haben sich ein Klientelsystem aufgebaut. Aus vielen Gründen hat sich in Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Stagnation breitgemacht.
Unternehmen spüren den Arbeitskräftemangel
Längst spürt auch die Wirtschaft die Folgen der Abwanderung. «Seit zwei bis drei Jahren haben wir Probleme, neue Arbeiter zu finden», sagt Christina Gjonaj. Sie ist die Geschäftsführerin eines Unternehmens, das medizinische Kräuter in die ganze Welt exportiert.
Die Firma geht daher einen neuen Weg: Die Lücken sollen Arbeiter aus Indien füllen. Im Sommer wurden die ersten Inder angeworben, eine neue Rekrutierungsrunde ist bereits geplant.
Christina Gjonaj geht davon aus, dass dies in Zukunft noch zunehmen wird. Denn der Arbeits- und Fachkräftemangel beträfe alle Branchen. Solange sich die Verhältnisse in Albanien nicht grundlegend ändern, dürfte die Abwanderung weitergehen. Vor allem, weil in Westeuropa viele Unternehmen weiter händeringend Personal suchen.