In der moldawischen Region Transnistrien, die von prorussischen Separatisten kontrolliert wird, ist es am Dienstag erneut zu einem Anschlag gekommen. Wer dafür verantwortlich ist, ist unklar. Die Ukraine und Russland weisen sich gegenseitig die Schuld zu. Russland droht zudem indirekt mit einem Militäreinsatz in Transnistrien. Die Regierung in Moldawien hält sich zurück. Raimar Wagner, Projektleiter für Rumänien und Moldawien bei der Friedrich-Naumann-Stiftung, ist zurzeit in Rumänien, steht aber in Kontakt mit der Bevölkerung vor Ort.
SRF News: Warum hält sich die moldawische Regierung zurück mit Schuldzuweisungen nach diesen Angriffen in Transnistrien?
Raimar Wagner: Sie hat am Dienstag, direkt nach dem dritten Anschlag – es gab ja drei Explosionen – den Sicherheitsrat zusammengetrommelt und in einem anschliessenden Pressestatement meinte sie, dass es Gruppierungen innerhalb von Transnistrien gebe, die sich einen Krieg wünschten, und dass diese Gruppierungen diese Attentate verübt hätten. Aber sie hat dabei weder die Ukraine noch Russland genannt.
Für Transnistrien ist eine Eskalation eine existentielle Bedrohung für die Sicherheit.
Die Ukraine beschuldigt hingegen Russland, und Russland die Ukraine. So oder so ist eine Eskalation für das kleine Transnistrien, das über wenig militärische Verteidigung verfügt und die Neutralität in der Verfassung verankert hat, eine existentielle Bedrohung für die Sicherheit.
Die Ukraine und Russland beschuldigen sich gegenseitig, für die Anschläge verantwortlich zu sein. Wie sieht das Moldawien?
Es kommt darauf an, wen man fragt. Geht es nach den prorussischen Sozialisten, ist natürlich die Ukraine Schuld. Gemäss den proeuropäischen Parteien liegt die Schuld bei Russland. Was wir allerdings aus diesem Krieg gelernt haben, ist, dass man Statements der russischen Seite kaum trauen darf. Und es gibt Generäle in Russland, die sagen, die Einnahme von Odessa und Transnistrien gehöre zum Sicherheitsplan Russlands. Diese Stimmen, die sagen, dass man die Ukraine vom Schwarzen Meer abschotten wolle, kommen zwar nicht vom russischen Aussenministerium direkt, aber von der russischen Armee.
Der Konflikt war lange eingefroren. Taut dieser jetzt wieder auf?
Diese Angst ist relativ gross. Es ist genau 20 Jahre her, seitdem die sogenannten grünen Männchen (russische Soldaten, Anm. d. Red.) in Transnistrien eingezogen sind. Man kann den Transnistrien-Konflikt auch als das erste «Laborexperiment» Russlands bezeichnen, denn nach diesem Modell hat es alle seine Kriege – in Ossetien, Georgien usw. – geführt. Das heisst, mit denselben Narrativen, dass die russische Minderheit bedroht sei, mit denselben Eingriffen und dem Entsenden von Kräften, um dann eine militärische Invasion zu rechtfertigen.
Muss man befürchten, dass sich der Krieg weiter ausbreitet?
Die Angst ist real. Von Odessa im Süden der Ukraine bis nach Kischinau, der Hauptstadt von Moldawien, sind es zwei Stunden Fahrt. Dazwischen liegt eine russische Armee, 2000 Mann stark. Man weiss nicht, ob diese Armee vielleicht mobilisiert wird und die Order bekommt, in Richtung Odessa zu fahren – oder in Richtung Kischinau.
Die Bedrohung ist ernst zu nehmen.
Moldawien hat keine grosse Armee, vielleicht 3000 bis 4000 Mann, die aber eher leicht bewaffnet sind und einem gut geschulten Militär nicht standhalten kann. Die Bedrohung ist somit ernst zu nehmen. Ich wurde am Dienstag von Freunden aus Moldawien angerufen, ob wir helfen können, im Falle des Falles ihre Eltern in Rumänien zu versorgen und zu beherbergen. So gross ist die Angst derzeit in Kischinau.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.