Pınar Gültekin wäre heute 29 Jahre alt. Vor zwei Jahren wurde die Studentin in Akyaka in der südtürkischen Provinz Muğla erst erwürgt, dann in einem Fass verbrannt. Mit dem später geständigen Mörder soll sie in einem Verhältnis gestanden sein. Pınar Gültekin ist nur eine von Hunderten von Frauen, die in der Türkei von Männerhänden getötet wurden.
Allein letztes Jahr wurden 497 Frauen getötet oder tot aufgefunden: Bei 217 ist der Tathergang noch ungeklärt. Deshalb sprechen die Statistiken von «vermeintlich Ermordeten».
Trend reisst nicht ab
«Die Anzahl dieser ungeklärten Fälle hat sich verdoppelt», sagt Fidan Ataselim, Generalsekretärin der WWSF. Der Verband «We Will Stop Femicide» zählt dazu Selbstmorde, tödliche Unfälle und andere gewaltsame Todesfolgen bei Frauen.
Das private Monitoring-Forum zählte in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 132 Femizide und über 100 ungeklärte Fälle. Der Trend reisst also nicht ab.
Fidan Ataselim setzt dies auch in Zusammenhang mit dem Ausscheren der Türkei aus der «Konvention von Istanbul» vor einem Jahr. Das Abkommen, von der Europäischen Union und 45 Staaten unterzeichnet, hat zum Ziel, die Strafverfolgung bei häuslicher Gewalt, Eheverbrechen, weiblicher Genitalverstümmelung und anderen genderspezifischen Gewalttaten in Bezug auf Geschlecht und soziale Identität international zu stärken und zu normieren.
Konservative positionieren sich
Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Regierungspartei aber bezeichnen diese Konvention als schädlich für die Einheit und das Recht der Familie, als Werbung für Scheidung und die Akzeptanz der LGBT-Gemeinschaft. Damit positionieren sich die konservativen politischen Kräfte in der Türkei ganz deutlich auch im Hinblick auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen im Sommer 2023.
Die Folgen seien längst spürbar. Das Monitoring-Forum zählt immer mehr Berichte von unterlassener Hilfeleistung und Spurensuche vonseiten der Polizei bei Gewalttaten gegen Frauen.
Die neue Linie der Regierung bestärke auch viele Männer in ihrer Gewalt gegen Frauen; in ihrer Überzeugung, sie hätten nicht nur ein Anrecht, sondern bei Mord sogar die Chance, strafmindernd davonzukommen, so Fidan Ataselim.
Kein gutes Omen für weitere Gerichtstage
Denn gleichzeitig unterstellen immer mehr türkische Gerichte den Opfern eine Mitschuld. Rezan Epözdemir, Anwalt der Familie Gültekin, bemängelt: «Gesetze für eine angemessene Verurteilung von Frauenmördern gibt es! Das Problem aber ist: Wenn der Täter betont, von der Frau provoziert worden zu sein und sich dies dann im Urteil strafmildernd auswirkt.»
Dies sei kein gutes Omen für die weiteren Gerichtstage im Mordfall Pınar Gültekin. Dieses richtungsweisende Verfahren findet in der Türkei in einem immer mehr angespannten innenpolitischen Klima statt.