Im Süden der Türkei fragt die Mutter der Getöteten: «Warum hat man ihren Tod nicht verhindert?» Solche Fragen quälen die Familie seit Fulya Demir – 30 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern – letzten Oktober in Zürich Altstetten umgebracht wurde. Ihr Mann gilt als dringend tatverdächtig. Die «Rundschau» und das Onlineportal «Watson» haben die Tragödie rekonstruiert.
Brisant: Der Mann war erst seit Kurzem in Freiheit. Die Recherchen zeigen, dass der mutmassliche Täter zuvor ein Jahr im Gefängnis sass. Verurteilt wegen mehrfachen, teilweise versuchten Betrugs, räuberischer Erpressung, Sachbeschädigung sowie versuchter Nötigung. Laut Bundesgerichtsurteil hatte der Mann bereits früher eine Frau belästigt und ihr gedroht, er werde sie, ihren Partner und ihre Eltern umbringen. Wegen dieser versuchten Nötigung habe es ein Rayon- und Kontaktverbot gegeben.
Vor der Haustüre erstochen
Am Abend des 13. Oktober 2021 erliegt die Kurdin Fulya Demir den Messerstichen vor ihrem Haus. Später meldet sich ihr Mann verletzt bei der Polizei. Er sitzt nun in Untersuchungshaft. Die gemeinsamen Kinder wurden bereits früher fremdplatziert. Das Paar befand sich in der Scheidung; die Ehe kriselte schon vor dem Gefängnisaufenthalt ihres Mannes. Eine Nachbarin berichtet von heftigen Streitereien.
«Er hat uns vom Gefängnis aus angerufen und gesagt, er wolle eine zweite Chance – für das Wohl der Kinder», erzählt Fulyas Mutter der «Rundschau». Im Mai 2021 bedroht er seine Frau aus dem Gefängnis. Daraufhin kommt er vom offenen in den geschlossenen Vollzug. Gemäss Anordnungen im Scheidungsverfahren darf er die eheliche Wohnung nach seiner Freilassung nicht betreten.
Gefahrenpotenzial unterschätzt?
Am 25. September 2021 kommt er frei. Am 9. Oktober geht der Tatverdächtige zur Wohnung in Altstetten. Fulya Demir, die zu Hause ist, ruft die Polizei – doch er flüchtet. Er bekommt ein Kontakt- und Rayonverbot. Warum nicht mehr? Der Mann war aktenkundig und hatte seine Frau mehrmals bedroht. Bei häuslicher Gewalt und Stalking kann die Polizei verschiedene Massnahmen aussprechen, bei schwerwiegender Gefährdung jemanden sogar 24 Stunden festnehmen.
Die Stadtpolizei schreibt, es sei «aufgrund der vorhandenen Informationen, des Verhaltens, der Aussagen und der Kooperationsbereitschaft des Tatverdächtigen mit den Behörden sowie aufgrund der gesetzlichen Vorgaben» nicht möglich gewesen, weiterreichende Massnahmen auszusprechen.
Die «Rundschau» kontaktiert den mutmasslichen Täter und seinen Anwalt. Diese wollen zum Fall aber keine Stellung nehmen.
Hohe Opferzahlen
Fulya Demirs Tod ist kein Einzelfall. Alle zwei Wochen stirbt in der Schweiz eine Person infolge häuslicher Gewalt. Opferberaterin Salome Gloor: «Die traurige Wahrheit ist, dass sich solche Tragödien nicht zu 100 Prozent verhindern lassen.» Ob ein potenzieller Täter eingesperrt wird oder nicht, ob eine Frau im Frauenhaus unterkommt oder nicht: Die Schaffung von mehr und schärferen Gesetzen allein werde die Situation nicht lösen und Gewaltdelikte verhindern. «Jeder Femizid ist einer zu viel. Es muss früher angesetzt werden, in der Schule, in der Gesellschaft und in der Politik.»
Für den Mann von Fulya Demir gilt die Unschuldsvermutung. Er befindet sich zurzeit in Haft.