Ilja Jaschin war einer der letzten bekannten Kreml-Gegner in Freiheit. Nun sitzt auch er in Untersuchungshaft. Ihm drohen viele Jahre Gefängnis. Die russische Justiz hat ein Verfahren gegen den Moskauer Politiker wegen «Diskreditierung der Armee» eröffnet. Jaschin hatte sich öffentlich gegen den Krieg in der Ukraine geäussert. Der langjährige Russland-Korrespondent David Nauer über einen Politiker, der für ein anderes Russland steht. Und dafür einen ungeheuren Preis bezahlen könnte.
Was genau werfen die russischen Behörden dem Oppositionspolitiker vor?
David Nauer: Ihm wird vorgeworfen, Falschnachrichten über die russische Armee verbreitet zu haben, also Fakenews. Es geht dabei um ein Youtube-Video, in dem Jaschin aus meiner Perspektive total sachlich über die russische Kriegsverbrechen in der ukrainischen Stadt Butscha bei Kiew berichtet.
Er wägt in dem Video Fakten ab, setzt sich mit der ukrainischen Version und dem Dementi des Kreml auseinander. Jaschin kommt zum Schluss: Die russische Armee hat in Butscha zahlreiche Zivilisten ermordet, also Kriegsverbrechen begangen. In Russland ist es aber inzwischen ein Verbrechen, die Wahrheit zu sagen. Deswegen soll Jaschin nun der Prozess gemacht werden – ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft.
Welche Bedeutung hat die Person von Ilja Jaschin in Russland?
Er ist kein Volkstribun, der die Massen aus der russischen Provinz hinter sich schart und demnächst den Kreml stürmen wollte. Aber er ist in Moskau sehr bekannt. Ich kenne ihn auch persönlich und habe ihn als sehr klugen und mutigen Politiker erlebt, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Er wirkt durch und durch integer.
Typen wie Ilja Jaschin habe ich in Russland immer wieder getroffen: Überzeugungstäter im besten Sinn. Leute mit einem inneren Kompass.
Seit Kriegsbeginn ist Jaschin zu einer herausragenden Figur geworden, weil er quasi der letzte wichtige oppositionelle Politiker in Freiheit war. Zahlreiche Kreml-Kritiker sitzen in Haft, viele sind emigriert, andere sind in der inneren Emigration, sitzen sozusagen auf der Datscha und Schweigen. Nicht so Ilja Jaschin: Er hat sich regelmässig gegen den Krieg geäussert. Laut und deutlich.
Kritik am Krieg in der Ukraine ist in Russland gefährlich. Dass der russische Staat unzimperlich mit Kritikern umgeht, ist bekannt. Warum ist Jaschin dieses Risiko eingegangen?
Er glaubt, eine Mission zu haben. Er will zeigen, dass der Kreml nicht gleich Russland ist, dass es ein anderes Russland gibt. Eines, das gegen den brutalen Krieg in der Ukraine ist. Jaschin ist sich übrigens sehr wohl bewusst gewesen, dass er in höchster Gefahr schwebt. Er hat davon gesprochen, dass er festgenommen werden könnte; er hat auch erlebt, dass Freunde von ihm in Haft gekommen sind. Dennoch ist er trotzig in Russland geblieben und ist nicht geflohen. Solche Typen habe ich in Russland immer wieder getroffen – Überzeugungstäter im besten Sinn. Leute mit einem inneren Kompass, die bereit sind, grosse Risiken auf sich zu nehmen.
Jaschin hat also eine Mission. Was bewirkt er damit?
Unmittelbar nichts Konkretes. Propaganda und Repression haben dazu geführt, dass der Kreml mit keinem ernstzunehmenden Widerstand rechnen muss. Jaschins Märtyrertum hat dennoch eine wichtige Funktion: Er wird zur Lichtgestalt für alle jene Russinnen und Russen, die gegen den Krieg sind, sich aber vielleicht nicht trauen, darüber zu reden. Jaschin erreicht also das, was er will: In diesen düsteren Zeiten zeigt er, dass es auch ein anderes Russland gibt.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.