Grossbritannien will Asylsuchende trotz Kritik nach Ruanda fliegen. Die Antworten auf die wichtigsten Fragen zur aktuellen Politik der Regierung von Boris Johnson gibt Völkerrechtsexperte Holger Hestermeyer.
SRF News: Ignoriert die britische Regierung das Völkerrecht?
Holger Hestermeyer: Die Regierung ist bereit, populistische Positionen zu vertreten, die vor dem Völkerrecht sehr schwer zu rechtfertigen sind, und die für die Mehrheit der Völkerrechtler das Völkerrecht brechen. Beim Nordirlandprotokoll lässt sich wohl sagen, dass das jedem auch in der Regierung klar sein muss. Inwiefern dass der Regierung auch im Fall der Überführung von Flüchtlingen nach Ruanda der Fall ist, ist nicht ganz klar.
Was ist problematisch an der Abschiebung von Flüchtlingen nach Ruanda?
Hier geht es nicht um eine Vereinbarung, nach der Flüchtlinge zur Überbrückung der Bearbeitungszeit ihres Asylantrags im Vereinigten Königreich nach Ruanda geflogen werden. Ihr Asylantrag wird vielmehr nach der Überführung in Ruanda und für Ruanda gestellt, und wenn er erfolgreich ist, bleiben sie in Ruanda. Rechtliche Probleme stellen sich zumindest in dreierlei Hinsicht, zunächst mit dem generellen Recht auf Asyl und dem Prinzip, dass Flüchtlinge nicht wegen unrechtmässiger Einreise bestraft werden dürfen, sodann mit der Tatsache, dass Grossbritannien natürlich für diese Flüchtlinge in der Verantwortung steht, auch für den Fall, dass sie zurückgeschickt werden in Länder, wo sie gefährdet sind (das sogenannte non-refoulement).
Drittens stellen sich Probleme hinsichtlich des bilateralen Transfer-Abkommens. Ruanda hat sich zwar erhebliche Mühen gemacht, das eigene Flüchtlingssystem aufzubauen, aber es ist immer noch in vielen Kriterien mangelhaft, das sagt zumindest das UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, und insofern – so sagt wiederum das UNHCR, steht hier Grossbritannien vor einem Völkerrechtsbruch, weil solche Abkommen gewissen Voraussetzungen unterliegen, die hier nicht erfüllt sind.
Bricht die Regierung das Brexit-Abkommen?
Hinsichtlich des Nordirlandprotokolls hat die Regierung unter Johnson eine Lösung mit der EU vereinbart, die explizit anders war als diejenige, die unter Theresa May mit der EU gefunden wurde. Die Änderung des Abkommensentwurfs, die gerade die Nordirlandfrage betraf, wurde damals als Triumph verkauft. Und diese gleiche Lösung wird jetzt als inakzeptabel hingestellt. Die Regierung hat einen Gesetzesentwurf eingebracht, der die im Nordirlandprotokoll vorgesehene Lösung explizit vollständig aushebelt.
Es steht ausser Zweifel dass der Gesetzesentwurf gegen das Abkommen der europäischen Union verstösst.
Wir müssen sagen, dass wir ganz am Anfang dieses Verfahrens sind, bisher ist es ein Gesetzesentwurf, ob er verabschiedet wird, ist unklar. Aber wenn er verabschiedet ist, steht ausser Zweifel, dass er gegen das Abkommen mit der Europäischen Union verstösst
Wie kann sich die EU gegen einen Vertragsbruch wehren?
Es gibt, nach dem Abkommen, zuständige Gerichte für diesen Fall. So kann die EU vor den europäischen Gerichtshof gehen. Aber das Vereinigte Königreich macht gerade in dem Völkerrechtsbruch klar, dass sie für diese Frage den europäischen Gerichtshof nicht anerkennen will. Dann ist ein unabhängiges Schiedsgericht vorgesehen, aber es stellt sich die Frage, ob das Vereinigte Königreich ein solches Urteil auch umsetzen und anerkennen würde.
Was bedeutet das für den internationalen Ruf von Grossbritannien?
Die Zuverlässigkeit des Vereinigten Königreichs als Partner in dem momentan angesichts der Ukraine-Krise akuten Kampf um die regelbasierte internationale Ordnung wird hier in Frage gestellt. Dies ist umso dramatischer, als dass das Königreich traditionell einer der verlässlichsten Partner bei der Verteidigung der regelbasierten Ordnung ist und in der Ukraine-Krise diese Verlässlichkeit zur Schau stellt. Das hätte ich so vor einem Jahr nicht gesagt, aber momentan erreicht die interne Diskussion ein Niveau, bei dem sich auch gute Partner Grossbritanniens wie die Schweiz fragen müssen, ob bei Abkommen zu befürchten ist, dass Verpflichtungen aus populistischen Gründen nicht eingehalten werden.