Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel prägte die deutsche Flüchtlingspolitik mit einem Satz, der bis heute nachhallt: «Wir schaffen das.» Ihr Ziel war es, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen, das Recht auf Asyl in den Köpfen der Deutschen zu verankern. Seitdem meldet das Bundeskriminalamt jährlich eine wachsende Zahl an rechtsextremen Gefährdern. Holger Schmidt, Experte für Rechtsextremismus, sieht einen Zusammenhang.
SRF News: In der deutschen Öffentlichkeit heisst es, dass die «Wir schaffen das»-Kultur dazu beigetragen hat, das Problem mit dem Rechtsextremismus zu verschärfen. Holger Schmidt, teilen Sie diese Meinung?
Holger Schmidt: Es ist auf jeden Fall eine Art Weckruf gewesen. Es ist so provokant gewesen für die gewaltbereite rechte Szene, dass sie sich nach diesem Satz erst wieder richtig zusammengefunden hat, nach den Schwächephasen, die sie vorher hatte. Man darf sich keine Illusionen darüber machen, was der Satz am extremen rechten Rand auslöste.
Letztes Jahr wurde der Politiker Walter Lübcke getötet. Der geständige Täter nannte als Motiv die Flüchtlingskrise. Wie erklären Sie sich das?
Der Täter war Anfang der 2000er Jahre extrem aktiv in der rechtsextremen Szene. Er hatte sich dann aus unterschiedlichen Gründen aus der Szene herausgezogen und galt als nahezu unauffällig. Als 2015 die vielen Flüchtlinge kamen, sagte Lübcke offen: «Das müssen wir einfach hinbekommen. Dazu sind wir auch moralisch verpflichtet. Und wem das nicht passt, der hat ja die Freiheit, dieses Land zu verlassen.»
Die Radikalisierung durch Sätze einzelner Personen ist sehr symptomatisch für die gesamte gewaltbereite rechte Szene.
Der mutmassliche Mörder hörte diesen Satz und war darüber so empört, dass er sich, so hat er es vor Gericht gesagt, zu dem Mordanschlag entschloss. Diese Radikalisierung durch Sätze einzelner Personen ist sehr symptomatisch für die gesamte gewaltbereite rechte Szene.
Hätte Deutschland keine Flüchtlinge aufnehmen sollen, um den Rechtsextremismus nicht zu verschärfen?
Es gibt immer neue rechte Terrorzellen. Deshalb allerdings die humanitären, europaweit gedachten Handlungen der deutschen Regierung 2015 infrage zu stellen, greift in meinen Augen zu kurz, weil die Herausforderung sehr viel komplexer gewesen ist, als zu sagen: «Wir können hier den rechten Rand bekämpfen, also kümmern uns nicht darum, was in Europa passiert.» Der Effekt, den das hatte, war damals nach meiner Sicht nicht vermutet worden.
Welchen Einfluss hatte Merkels Aussage auf das Erstarken der AfD?
Wenn wir uns die Popularität der AfD anschauen, war Merkels Satz für den Erfolg der Partei geradezu ein Geschenk. Die Partei wurde 2013 gegründet und hatte als grosses Thema zunächst die Ablehnung des Euro. Daraufhin war man sich in der Partei nicht mehr ganz einig, welche Ziele die wichtigsten sind. Dann kam die Flüchtlingssituation, und die AfD konnte an Fahrt gewinnen. Dass es ihr heute schlechter geht, liegt daran, dass sie sich gerade selbst zerlegt.
Hat Merkel bei ihrer Aussage die Situation falsch eingeschätzt?
Ich glaube, dass sie politisch nach ihren Grundüberzeugungen – und wenn man das etwas pathetisch sagen darf, nach ihrem Herzen – handelte. In der Breite der Bevölkerung ist auch jetzt in der Coronakrise die Zustimmung durchaus grösser, als es ausschaut.
Aber die Situation 2015 war eine, in der es keine billige, einfache Lösung gab, sondern sie war sehr komplex. Merkel versuchte mit diesem Zitat, das auf den Punkt zu bringen. Ob das gelungen ist? Vielleicht sind wir fünf Jahre danach einfach noch nicht weit genug weg, um das historisch richtig beurteilen zu können.
Das Gespräch führte Claudia Weber.