Ein dunkles Kapitel aus den Gründungsjahren des Staates Israel: Damals verschwanden zahlreiche Kinder von jemenitischen Jüdinnen und Juden, die nach Israel eingewandert waren. Viele Fälle wurden nie aufgeklärt. Diese Woche hat Premierminister Benjamin Netanjahu das Verschwinden dieser Kinder offiziell anerkannt, die betroffenen Familien sollen mit umgerechnet 41 Millionen Franken entschädigt werden. Für Journalistin Gisela Dachs kommt der Schritt spät.
SRF News: Wie ist dieser Schritt der Regierung in Israel zu werten?
Gisela Dachs: Ich würde sagen, es ist ein später Versuch, Leid anzuerkennen, nachdem diese Affäre der verschwundenen jemenitischen Kinder die israelische Gesellschaft seit Jahrzehnten immer wieder beschäftigt hat.
Was ist damals genau passiert?
Man muss zurückgehen in die Jahre nach der Staatsgründung 1949 bis 1951, andere sagen bis 1954, als es zur Masseneinwanderung aus der arabischen Welt kam. Hier handelte es sich vor allem, aber nicht nur, um die Immigration aus dem Jemen. Es kamen 50'000 Juden aus dem Jemen nach Israel. In diesen Jahren sind mehr als 1000 Babys verschwunden, manche sagen bis zu 4500. Sie waren in der Obhut von Krankenschwestern oder im Spital. Manche sind direkt nach der Geburt verschwunden oder man hat sie den Eltern weggenommen, weil sie behandelt werden mussten oder krank waren.
Wenn die Eltern nachfragten, sagte man ihnen, die Kinder seien gestorben.
Wenn die Eltern nachfragten, sagte man ihnen, die Kinder seien gestorben. In den meisten Fällen haben sie aber keine Leiche gesehen. Sie haben auch keine Todesurkunden bekommen. Der Verdacht, dass etwas schiefgelaufen sein könnte, kam, als einige der Eltern, als das Kind 18 Jahre alt geworden wäre, einen Einzugsbefehl erhielten. Sie vermuteten, dass man ihre Kinder weitergegeben hatte, in diesem Fall an kinderlose Holocaust-Überlebende.
Was war die Motivation, diese Kinder ihren Familien wegzunehmen?
So genau weiss man das nicht. Es war sicherlich zu dieser Zeit so, dass die europäisch stämmigen Staatsgründer von Israel von oben herab auf Einwanderer aus orientalischen Ländern blickten, die man als rückständig empfand. Die Babys hat man einfach aus ihren Familien, die man für primitiv hielt, gerissen, und hat sie dann europäischstämmigen Familien gegeben, bei denen man sich eine bessere Zukunft für die Kinder vorgestellt hat – sehr paternalistisch und einfach über die Köpfe der Mütter und Väter hinweg.
Weiss man heute, wie viele Kinder fremdplatziert wurden?
Bei 50 Fällen hat man es nachvollziehen können. Durch genetische Tests haben sich tatsächlich biologische Familien in Israel wiedergefunden. Das hatte vor allem auf die Mütter einen beruhigenden Effekt, die immer den Verdacht hatten, dass ihr Kind möglicherweise gar nicht tot ist, sondern tatsächlich irgendwo weiterlebt. So gross die Wunde war, gab es ihnen zumindest die Sicherheit, dass sie sich das nicht alles eingebildet hatten.
Die Fälle erinnern in der Schweiz an das Projekt «Kinder der Landstrasse». Kinder von Fahrenden wurden fremdplatziert durch Pro Juventute. In Israel stellt sich die Frage: Wie viel wusste der Staat über das Vorgehen?
Es gab Untersuchungskommissionen 1967, 1994, 2001 und 2016. Und da fand man eigentlich keinen Hinweis darauf, dass es eine organisierte, systematische Aktion war, sondern dass es vielmehr auf die vermeintlich gut gemeinte Tat von Spitalpersonal zurückzuführen war. Die Betroffenen sind sich hingegen ganz sicher und sagen, das war staatlich organisiert. Aber konkret hat man dafür bisher keine Beweise finden können.
Das Gespräch führte Leonie Marti.