Norris Lo und Leo Chand sind ganz normale Hongkonger. Sie sind in der Stadt geboren und aufgewachsen. Jetzt wollen sie alles aufgeben – und nach Taiwan auswandern. «Wir sehen in Hongkong keine Zukunft mehr», sagt die 35-jährige Norris Lo. «Einerseits wegen der wirtschaftlichen, aber auch wegen der politischen Situation.»
Proteste prägen den Alltag in Hongkong
Sie und ihr Mann hätten schon länger über eine Auswanderung nachgedacht: «Der Lifestyle in Hongkong passt nicht mehr zu uns.» Die Stadt sei zu hektisch und vor allem zu teuer. Aber erst die Ereignisse im letzten Jahr hätten den Entscheid besiegelt. Beide haben durchaus Sympathie für die Demokratiebewegung, sind aber keine Aktivisten.
Trotzdem prägen die Proteste den Alltag. «Wenn ich am Morgen aufwache, will ich nicht nachdenken müssen, was für ein T-Shirt ich anziehen kann», sagt Leo Chand. An einem Protesttag würde die Polizei alle, die Schwarz tragen, verhaften. «Ich habe nicht einmal die Freiheit, mein eigenes T-Shirt auszuwählen.»
Der 49-jährige News-Kameramann Leo Chand hat längst aufgehört, an den Protesten zu filmen. Eine Verhaftung würde seine Auswanderungspläne durchkreuzen: «Um nach Taiwan auswandern zu können, braucht es einen sauberen Leumund.»
Norris Lo ist Werberin: «Die Gesellschaft ist zweigeteilt. Ich muss mir gut überlegen, wo ich Werbung platziere.» Würde eine Marke zum Beispiel mit einem Peking-treuen Unternehmen zusammenarbeiten, müsse diese mit einem Boykottaufruf seitens der Demokratiebefürworter rechnen.
Jetzt will das Paar in Taiwan ganz neu anfangen. Norris Lo hat kürzlich ein Backdiplom gemacht. Ihren Job als Werberin will sie aufgeben und in Taiwan eine eigene Bäckerei eröffnen. Leo Chand will hinter den Tresen stehen und mit anpacken.
Anfragen für Strafregisterauszug verdoppelt
Zahlen, wie viele Menschen Hongkong verlassen wollen, gibt es nicht. Einen Hinweis liefert die Anzahl ausgestellter polizeilicher Führungszeugnisse. Zwischen 2018 und 2019 ist die Zahl der ausgestellten Zeugnisse um rund 40 Prozent auf 33'000 gestiegen.
Margaret Chau führt in Hongkong ein Beratungsbüro für Ausreisewillige. Auch sie spürt, dass immer mehr Hongkonger die Stadt verlassen wollen. Seit Beginn der Proteste letzten Sommer hat ihre Firma Goldmax Immigration mehr zu tun: «Die Zahl der Anfragen haben sich verdoppelt. Zurzeit erhalte ich rund 30 bis 40 pro Tag.»
Englischsprachige Länder als Ausreiseziel beliebt
Hoch im Kurs seien englischsprachige Länder wie Kanada, Australien, die USA, Grossbritannien und Neuseeland. Aber auch Taiwan sei dank seiner kulturellen Nähe zu Hongkong sehr gefragt.
Immer wieder erhält Margaret Chau Anrufe von Klienten, die so schnell wie möglich die Stadt verlassen wollen. Diese muss sie enttäuschen: «Es gibt keinen schnellen legalen Weg.» Bis alle Papiere erledigt seien, könne es je nach Land Monate dauern. Hinzu komme, dass einige der Destinationen wie zum Beispiel Taiwan wegen der Corona-Pandemie nach wie vor die Grenzen geschlossen haben.
Run auf britische Immobilien
Nicht nur die Agentur in Hongkong spürt die vermehrte Nachfrage, auch in den Zielländern ist die Auswanderung spürbar. Etwa im fast 10’000 Kilometer entfernten Grossbritannien. Die Regierung hat kürzlich die Niederlassungsbedingungen für Hongkonger erleichtert.
Nun hat die Nachfrage aus Hongkong einen regelrechten Boom auf dem Immobilienmarkt ausgelöst, wie Immobilienberater Alex Goldstein erklärt: «Es sind Menschen mit grossen und kleineren Budgets, deshalb beschränkt sich die Nachfrage für Kaufobjekte nicht nur auf London, sondern beispielsweise auch auf Manchester oder York.»
In einigen Fällen musste der Kauf und Umzug innert weniger Tage abgewickelt werden: «Bei manchen war eine grosse Dringlichkeit zu spüren, offensichtlich wegen der politischen Lage», sagt Goldstein. Die britische Regierung schätzt, dass rund 200’000 Hongkonger übersiedeln werden.
Dem Haftbefehl entkommen
Einer von ihnen ist der 27-jährige Aktivist Nathan Law. Mitte Juli hat er Hongkong verlassen und wohl keinen Tag zu spät, denn kurz darauf hat China einen Haftbefehl gegen ihn erlassen. Natürlich habe er Angst, sagt Nathan, aber er habe auch damit gerechnet: «Der kommunistischen Partei passt nicht, was ich tat und tue. Deshalb sind sie hinter mir her.»
Nathan Law gehört zu den bekanntesten Gesichtern der Regenschirm-Revolution von 2014. 2016 gründete er mit anderen eine Partei und war kurz darauf der jüngste gewählte Abgeordnete im Stadtparlament. Wegen seines Engagements für ein demokratisches Hongkong wurde er festgenommen, doch später wieder frei gelassen.
Auch in London nicht sicher
Der jetzige Haftbefehl kann ihm eigentlich nichts anhaben, denn die britische Regierung hat ihr Auslieferungsabkommen mit Hongkong im Juli ausgesetzt. Der Arm der chinesischen Regierung ist lang. Spione oder Hacker könnten auch für Nathan ein Problem werden.
Deshalb will er beim Dreh mit SRF nicht zu lange und nicht auf einem belebten Platz gefilmt werden: «Wir wissen, wie stark Chinas Wirkungsweise sein kann. Darum bin ich wachsam, halte meinen Wohnort geheim und halte mich nicht zu lange an einem Ort auf.»
Doch sein Engagement will der Student nicht aufgeben. Hongkong, wie er es kannte, gibt es nicht mehr, doch der Kampf für mehr Demokratie höre nicht auf. Deshalb ist Nathan in allen internationalen Medien mit seiner Botschaft präsent. Er ist überzeugt: «Wir müssen weiterhin in der ganzen Welt Hongkong zum Thema machen, nur so können wir Druck auf Chinas kommunistische Partei ausüben.»