Afghanistans Präsident Aschraf Ghani hat die umstrittene Anordnung zur Freilassung von 400 als besonders gefährlich eingestuften Talibankämpfern unterzeichnet. Er folgt damit einer Empfehlung der grossen Ratsversammlung. Die Freilassung galt als wichtigste Forderung der militanten Gruppe vor Beginn der Friedensverhandlungen. Afghanistan-Kenner Thomas Ruttig glaubt, dass die Taliban durchaus verhandlungsbereit sein könnten. Unklar sei aber, inwiefern die radikalen Islamisten dem «neuen Afghanistan» ihre Agenda aufdrücken können und wollen.
SRF News: Ist der Weg nun frei für Friedensverhandlungen?
Thomas Ruttig: Ja. Es hat lange gedauert. Aber wie afghanische Medien berichten, könnten die Gespräche bereits am kommenden Sonntag beginnen. Hundertprozentig darauf verlassen sollte man sich nicht. Denn zuerst müsse die Freilassung erfolgen, fordern die Taliban. Es könnte sich also alles noch um ein paar Tage verschieben.
Die Taliban auf der einen und die Regierung und demokratischen Kräfte auf der anderen Seite vertreten total unterschiedliche politische Vorstellungen und Weltbilder. Werden Sie sich auf ein Konzept für Afghanistan einigen können?
Das wird sehr schwierig. Und es gibt keine Garantie, dass Verhandlungen zu so einem Ergebnis führen werden. Beide Seiten haben aber klargemacht, dass sie es versuchen wollen. Tatsächlich stehen sich zwei Systeme gegenüber, die unter einen Hut gebracht werden müssen: die derzeitige Islamische Republik Afghanistan und das Islamische Emirat der Taliban, das parallele Regierungsstrukturen im Land unterhält.
Aber: In der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan gibt es einen Scharia-Vorbehalt für alle Gesetze des Landes. Das heisst, dass kein Gesetz islamischem Recht widersprechen darf. Das wäre eine Grundlage, auf die sich beide Seiten verständigen könnten. Alles andere könnte dann zweitrangig sein. Das bedeutet aber nicht, dass solch eine Lösung positiv wäre.
Welche Seite hat die besseren Karten in den Verhandlungen?
Bis jetzt sah es so aus, als ob die Taliban in der stärkeren Position wären. Sie üben den grösseren militärischen Druck aus. Einem Waffenstillstand vor Verhandlungsbeginn haben sie nicht zugestimmt, da ihnen damit ein wichtiges Druckmittel fehlen würde. Auf der anderen Seite wird die afghanische Regierung von der gesamten internationalen Gemeinschaft unterstützt – auch wenn die USA abziehen möchten. Das ist aber noch nicht passiert.
Solange sich die internationale Gemeinschaft hinter die Positionen stellt, die in der doch recht demokratischen Verfassung Afghanistans stehen, ist auch die afghanische Regierung in einer guten Position. Wenn man die Abschlussresolution der Loja Dschirga liest, können einem aber Zweifel kommen. In einem Punkt wird zum Beispiel gefordert, dass die Rolle der islamischen Gelehrten gestärkt werden muss. Das würde die islamische Komponente gegenüber der demokratischen im zukünftigen Afghanistan stärken.
Vor allem wird zur Frage der Frauenrechte nur gesagt, dass den Frauen in der künftigen Verfassung und im politischen System des Landes ein «sozialer und politischer Status» garantiert wird. Welcher Art dieser Status sein soll, wird nicht näher ausgeführt. Das wäre ein Schritt zurück von den gegenwärtig verfassungsmässig verbrieften gleichen Rechten für Frauen in Afghanistan. Auch, wenn es in der Praxis häufig anders aussieht. Wichtig ist, es steht im Gesetz.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.