Sie verlassen die Wohnung nur, wenn es unbedingt sein muss: Hikikomori. So nennen Japanerinnen und Japaner ihre Mitmenschen, die sich selbstgewählt von der Gesellschaft abkapseln. Laut Hochrechnungen leben zwischen 500'000 und einer Million Menschen in Japan ein solches Einsiedlertum – meist bei ihren Eltern.
Durchs Internet sind Hikikomori mit der Welt vernetzt, ohne vor die Tür zu treten. Viele sprechen nicht mehr, kommunizieren mit Zetteln. Arbeiten ist unmöglich. Die Eltern, meist der Mittelschicht angehörend, umsorgen ihre Kinder und hoffen, dass sich das Problem von alleine löst.
Diese Abschottung ist ein schleichender Prozess. Knapp zwei Drittel der Hikikomori sind männlich, viele zwischen 15 und 24 Jahre alt. Eine Isolation bereits im Teenageralter ist möglich, weil die japanischen Behörden Schulabbrüche dulden.
Hikikomori werden Menschen genannt, die sich seit mindestens einem halben Jahr isoliert haben. Mehr als ein Drittel lebt seit mehr als sieben Jahren von der Aussenwelt abgeschottet. Die Ursachen für die soziale Isolation sind vielschichtig: Der Leistungsdruck bereits in jungen Jahren und der ausgeprägte Gruppenzwang in der japanischen Gesellschaft gelten aber als wichtige Motoren.
Das Phänomen begann in den 80er-Jahren. Hikikomori wurde aber erst in den späten 90ern zum Begriff. Damals wurde ein neunjähriges Mädchen von einem Einsiedler entführt und in seinem Zimmer gefangen gehalten. Es folgten mehrere Fälle brutaler Messerattacken, die durch die Medien ihren Weg um den Globus fanden.
Im Jahr 2009 erstach ein 30-Jähriger fünf Familienangehörige, weil das Internet im Haus nicht funktionierte. Vergangenen Frühling lief ein Hikokomori bei einer Schule Amok und tötete eine Sechstklässlerin und ihren Vater. Das ist die eine Seite.
Das Stigma ist gross
Auf der anderen Seite gibt es Fälle wie die eines Vaters, der seinen Hikikomori-Sohn wenige Tage nach dem Amoklauf tötete – aus Angst, dieser könne selbst zum Amokläufer werden. Das Stigma ist gross: «Viele Familien verbergen ihre Einsiedler-Kinder vor den Nachbarn», sagt Martin Fritz.
Der freie Journalist lebt in Tokio und hat auf Reportagen verschiedene Hikikomori getroffen, die sich aus ihrer selbstgewählten Isolation befreit haben. Er sagt: Gewalt ist bei Hikikomori eigentlich nicht typisch. «Es geht ja meist um einen Rückzug nach innen.»
Das Problem blieb lange unter dem Deckel: Die Familie ist in Japan eine sakrosankte Einheit. Der Staat mischt sich ungern in familiäre Angelegenheiten ein. «Ob jemand das Haus verlässt oder mit seinen Eltern spricht, lässt sich von aussen nicht beobachten.»
Durch die Gewaltverbrechen hat ein Umdenken stattgefunden, der Staat schaut genauer hin. Das hängt aber auch mit der Wirtschaft zusammen, weiss Fritz. Die Hälfte der Hikikomori ist mittlerweile zwischen 40 und 65 Jahre alt. Ein Problem für den Inselstaat, der an Überalterung und damit einhergehendem Arbeitskräftemangel leidet. Sterben die Eltern, werden die Einzelgänger zu Betreuungsfällen.
Die Regierung hat das Problem erkannt und unterstützt sozialpädagogische Programme, welche die Hikikomori wieder in die Gesellschaft und die Arbeitswelt integrieren sollen. Der Weg aus der Isolation ist ein langwieriger Prozess. Aber: «Schaffen die Hikikomori den Schritt in eine eigene Wohnung, verspricht das Erfolgsaussichten», so der Journalist.